Berlin. Mindestlohn und Preise passen nicht mehr zusammen, sagt Eva Maria Welskop-Deffaa – und macht einen Vorschlag zur Vermögensverteilung.
Die gesellschaftliche Stimmung in Deutschland ist angespannt im Sommer 2023: Viele Menschen spüren die Krisen auf dem Konto, der Ton in der Debatte um Migration ist rau und die AfD holt in Umfragen Rekordwerte. Caritas-Präsidentin Eva Maria Welskop-Deffaa erklärt im Gespräch, was die Gesellschaft auseinandertreibt und was ihr trotzdem Hoffnung macht.
Frau Welskop-Deffaa, die christlichen Parteien CDU und CSU haben zuletzt häufig über Migration geredet. Ein Vorschlag lautete, das individuelle Recht auf Asyl abzuschaffen. Was halten Sie davon?
Eva Maria Welskop-Deffaa: Ich bin beunruhigt. Die Union scheint bemüht, in der Migrationspolitik eine konservativ wirkende Fahne hochzuhalten – ganz egal, was an Substanz dahintersteckt. Dieser Asylrechtsvorschlag ist meiner Meinung nach nicht gerichtsfest. Das müssten auch die dafür Verantwortlichen wissen. Ich halte es für fahrlässig, mit unrealistischen Vorschlägen eine Migrationsdebatte anzuheizen, anstatt gemeinsam Lösungen zu suchen.
Der CSU-Politiker Peter Ramsauer hat davor gewarnt, dass bei unkontrollierter Einwanderung die Gefahr bestehe, dass „Ungeziefer“ ins Land komme. Woran erinnert Sie das?
Welskop-Deffaa: Diese Wortwahl erinnert an eine Zeit, die 90 Jahre her ist. Ich finde das unerträglich. Davon abgesehen: Deutschland ist darauf angewiesen, dass Menschen aus dem Ausland zu uns kommen. Geflüchtete sind nicht vom ersten Tag an als Arbeitskräfte einsetzbar, aber dank intensiver Bemühungen gelingt Integration immer wieder schnell. Die Caritas verdankt es auch dem Einsatz von Menschen die als Geflüchtete zu uns kamen, dass wir unsere Angebote in der Pflege aufrechterhalten können, nicht wenige finden Beschäftigung bei uns.
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Wo sehen Sie Probleme bei der Aufnahme von Geflüchteten?
Welskop-Deffaa: Manche Kommunen nutzen wieder Turnhallen zur Unterbringung. Es schwächt die Bereitschaft zur Aufnahme stark, wenn Schulklassen monatelang keinen Sportunterricht haben. Außerdem ist die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge dramatisch gestiegen. Die Jugendhilfe-Einrichtungen haben viel zu wenig Plätze. Eine gute Betreuung ist aber entscheidend für die Integration und auch für den Einstieg in den Arbeitsmarkt. Deswegen sind wir besorgt, wenn eine Politik der Einsparungen dazu führt, dass es weniger Unterstützungsangebote gibt.
Sie sprechen davon, dass die Regierung ums Geld ringt. Die Schuldenbremse soll eingehalten werden, dafür wird gekürzt etwa bei der Migrationsberatung. Setzt die Ampel die richtigen Prioritäten?
Welskop-Deffaa: Ich hoffe, dass die Sommerpause der Ampel guttut und der Koalition danach bewusst ist, dass ein funktionierender Sozialstaat auch auf der Leistungskraft der freien Träger beruht. Die derzeit geplanten Einschnitte bei den Wohlfahrtsverbänden führen über kurz oder lang zu einer Verstaatlichung sozialer Dienste. Das kann niemand wollen. Die von der Ampel geplanten Kürzungen schwächen unser soziales System so stark, dass es ins Wanken geraten kann. Ich hoffe, dass wir das abwenden können.
Besonders umstritten ist in der Koalition die Kindergrundsicherung, auch hier geht es ums Geld.
Welskop-Deffaa: Die Debatte der Ampel um die Kindergrundsicherung war toxisch. Es ging monatelang nur darum, wie viele Milliarden es dafür geben oder nicht geben soll, anstatt um Konzepte zum Schutz von Kindern vor Armut zu diskutieren. Zurück blieb in der Bevölkerung der Eindruck: Für Familien ist zu wenig Geld da. Das schürt Ängste bei denjenigen, die ohnehin kaum zurechtkommen.
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Große Verunsicherung lösten 2022 die hohen Energiepreise aus. Haben die staatlichen Preisbremsen gewirkt?
Welskop-Deffaa: Ja, die waren sehr effizient. Es war eine richtige Entscheidung der Regierung, bei den Energiepreisen einzugreifen. Das hat auch dazu geführt, dass die Inflationsrate so stark gesunken ist.
Ist die Krise im Geldbeutel der Bürger damit vorbei?
Welskop-Deffaa: Nein. Wir merken, dass die unteren Einkommensgruppen abgehängt werden von der allgemeinen Entwicklung. Wenn im Prenzlauer Berg eine Kugel Eis über zwei Euro kostet und der Mindestlohn bei zwölf Euro liegt, sind zwei Kugeln Eis beinahe eine halbe Stunde Arbeit. Da passt einfach etwas nicht mehr zusammen.
In dem Kontext fordert CDU-Generalsekretär Linnemann eine Arbeitspflicht für Bürgergeld-Empfänger. Das ist abwegig. Ein Fünftel der Bürgergeld-Empfänger sind Aufstocker, die trotz Arbeit nicht genug verdienen, um ihre Familien versorgen zu können.
Wenden sich mehr Menschen wegen Geldsorgen an die Caritas?
Welskop-Deffaa: Unsere Schuldnerbratungsstellen werden viel häufiger aufgesucht als früher, zunehmend auch von Menschen, die einen Job haben. Zahlreiche Menschen haben auch wegen der gestiegenen Energiepreise finanzielle Probleme. Klar ist aber: Die Preise werden nicht mehr auf das Niveau fallen, auf dem sie vor dem Ukraine-Krieg lagen. Das muss der Staat bei der Höhe des Wohngelds und des Bürgergelds berücksichtigen.
Die Ampel will bald eine Rentenreform vorlegen. Was sollte die enthalten?
Welskop-Deffaa: Für die Solo-Selbstständigen müssen in der gesetzlichen Rentenversicherung neue Lösungen gefunden werden. Viele von ihnen kombinieren selbstständige und abhängige Beschäftigung, zahlen aber nur Beiträge für den einen Teil. Das mündet in Altersarmut.
Das Armutsrisiko haben auch viele Frauen, die länger familienbedingt in Teilzeit beschäftigt waren. Daher votieren wir für das Rentenanwartschaftssplitting: Die Rentenansprüche von Partnern sollten auf beide gleich verteilt werden. Das steht allerdings nicht im Koalitionsvertrag. Ich zweifele daran, dass die Koalition die Kraft hat, sich auf eine solche Neuerung zu einigen.
Fest vereinbart ist die Einführung der Aktienrente. Was halten Sie davon, ein neues Standbein zur Finanzierung der Rente am Kapitalmarkt aufzubauen?
Welskop-Deffaa: Ich bin keine Freundin davon. Die Umlagefinanzierung ist das richtige Modell. Es ist zudem kein günstiger Zeitpunkt zum Aufbau einer kapitalgedeckten Säule, auch wenn die Zinsen wieder gestiegen sind.
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Vermögen werden vererbt, Armut auch. Brauchen wir in Deutschland mehr Umverteilung?
Welskop-Deffaa: Wir müssen die Frage der ungleichen Verteilung von Vermögen dringend angehen. Das gilt in unsicheren Zeiten ganz besonders, denn das Gefühl der sozialen Bedrohung ist ungleich größer bei denjenigen, die absehbar nichts oder nur wenig erben werden. Das ist auch ein regionales Problem: In den „neuen Ländern“ sind die zu vererbenden Vermögen wesentlich kleiner als am Starnberger See.
Befürworten Sie ein staatliches Grunderbe für alle, um Kindern aus Familien mit wenig Geld ein Startkapital zu geben?
Welskop-Deffaa: Das ist eine sympathische Idee, deren Finanzierung allerdings nicht einfach ist. Ich bin für eine Reform der Erbschaftsteuer, um für eine ausgewogenere Verteilung der Vermögen zu sorgen.
Führt die Angst vor sozialem Abstieg zur Unzufriedenheit mit der Politik?
Welskop-Deffaa: Diese Unzufriedenheit höre ich nicht nur von Menschen, die von Abstiegsängsten bedroht sind. Derzeit wird angesichts der sich verschärfenden Krisen von vielen oft und hart auf die demokratischen Parteien geschimpft, das ist erschreckend. Bei aller auch berechtigten Kritik am politischen Betrieb ist mein Appell: Wir dürfen uns als Gesellschaft nicht von einer sich immer weiter radikalisierenden Rhetorik mitreißen lassen.
Das heißt?
Welskop-Deffaa: Im Hinblick auf die AfD ist immer von der Brandmauer die Rede. Der Begriff ist aus meiner Sicht völlig falsch. Es geht doch nicht darum, etwas, das brennt, möglichst weit von uns fernzuhalten. Wenn etwas brennt, müssen wir es löschen. Das fängt damit an, dass wir uns darauf verständigen, wie Löschen geht, also über Lösungen reden. Dazu gehört dann auch, dass die sozialen Angebote gestärkt, nicht kaputtgespart werden.
Haben Sie Angst um den gesellschaftlichen Zusammenhalt?
Welskop-Deffaa: Wenn ich im Land unterwegs bin, treffe ich immer wieder viele Menschen, die sich für andere einsetzen. Dafür bin ich dankbar und deshalb habe ich persönlich nicht den Eindruck, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt. Aber er kann leicht kaputt gehen, wenn wir ihn kaputt reden. Das kann dann auch sehr schnell gehen.