Kiew. Der Aufstand sorgte in Kiew für vorsichtigen Optimismus – und für Genugtuung. Doch die Kämpfe an der Front gehen unvermindert weiter.
Es ist ein Foto, das Kraft, Einigkeit und Zuversicht ausstrahlen soll. Am frühen Samstagmorgen postet Andrij Jermak, Chef des ukrainischen Präsidentenbüros und rechte Hand von Wolodymyr Selenskyj, ein Bild, das neben Jermak noch den Befehlshaber der ukrainischen Armee Walerij Saluschnyj und vier weitere wichtige Kommandeure der Streitkräfte zeigt. "Wir sind das Team von Präsident Selenskyj. Bei den Russen wird es brennen", heißt es in der Überschrift.
Am Tag des versuchten Aufstandes von Jewgenij Prigoschin und seiner Söldnertruppe Wagner in Russland ist das ein deutliches Zeichen. Monatelang hat die russische Propaganda versucht, Konflikte zwischen Selenskyj und Saluschnyj oder zwischen ukrainischen Militärkommandeuren zu konstruieren, um die Stimmung in der Ukraine zu beeinflussen – vergeblich. Stattdessen flammte der schwelende Konflikt zwischen Prigoschin und dem russischen Verteidigungsministerium mit neuer Kraft in Russland auf.
Ukraine blieb bislang gegenüber Prigoschins Ansagen skeptisch
Obwohl die früheren Aussagen Prigoschins, in denen er etwa Verteidigungsminister Sergej Schoigu oder den Generalstabchef Walerij Gerassimow scharf kritisierte, in der Ukraine immer aufmerksam verfolgt wurden, nahm man sie doch stets mit einer gewissen Skepsis wahr. Zu oft hatte das, was Prigoschin öffentlich erzählte, wenig mit der Realität zu tun.
Als er im Frühjahr über den Munitionsmangel bei seinen Söldnern in der Region um Bachmut klagte, berichteten ukrainische Soldaten vor Ort, dass sich der Beschuss durch Wagner überhaupt nicht verringere. Und erst vor wenigen Tagen berichtete Prigoschin über große Erfolge der ukrainischen Gegenoffensive, die sich jedoch nicht mit bekannten Daten durch verifizierte Fotos und Videos von der Front deckten.
In Kiew gibt es am Samstag kein anderes Thema – Spott und Häme
Umso vorsichtiger wurden die ersten Meldungen über den Wagner-Aufstand am späten Freitagabend wahrgenommen, obwohl die sozialen Medien schon zu diesem Zeitpunkt voll des Spottes und der Häme über den sich anbahnenden "Bürgerkrieg" waren – mit Anspielungen auf die Tatsache, dass Moskau den 2014 begonnenen Krieg im Donbass in der Ostukraine zu einem Bürgerkrieg stilisiert hatte.
Am Samstag gab es dann in Kiew nur ein Gesprächsthema – und plötzlich eine vergleichsweise optimistische Stimmung, obwohl die ukrainische Hauptstadt trotz der Geschehnisse in der Nacht erneut durch russische Marschflugkörper und Raketen beschossen wurde. Ein Wohnhaus in Kiew wurde dabei durch Trümmer einer Rakete beschädigt, mindestens drei Menschen kamen ums Leben.
"Sollen sie sich doch alle in Russland gegenseitig fressen"
"Ich habe zwar keine allzu großen Hoffnungen wegen Prigoschin und all dieser Entwicklungen", sagt Dmytro, Besucher eines Restaurants im Kiewer historischen Bezirk Podil. "Nach 16 Schreckensmonaten ist es aber schön, sich das anzuschauen. Sollen sie sich doch alle in Russland gegenseitig fressen. Die Geister, die Putin rief, kommen nun zu ihm zurück."
An einem anderen Tisch wird zur gleichen Zeit wird neben den Sieg der Ukraine auf einen Staatsstreich in Russland angestoßen – und darüber spekuliert, ob Kyrylo Budanow, Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, etwas mit den Ereignissen in Russland zu tun haben könnte. Sympathien haben die Ukrainer für keine der Seiten in diesem russischen Konflikt. Es ist aber klar, dass eine Instabilität im Angreiferland zumindest vorübergehend vorteilhaft für Kiew ist – gerade in Zeiten der laufenden ukrainischen Sommeroffensive.
Land | Ukraine |
Kontinent | Europa |
Hauptstadt | Kiew |
Fläche | 603.700 Quadratkilometer (inklusive Ostukraine und Krim) |
Einwohner | ca. 41 Millionen |
Staatsoberhaupt | Präsident Wolodymyr Selenskyj |
Regierungschef | Ministerpräsident Denys Schmyhal |
Unabhängigkeit | 24. August 1991 (von der Sowjetunion) |
Sprache | Ukrainisch |
Währung | Hrywnja |
"In diesem Spiel feuern wir beide Teams an", schreibt daher der Politologe Oleh Saakjan auf Facebook. Das trifft die Stimmung in der Ukraine: Egal, ob Prigoschin oder das Verteidigungsministerium am Ende den Machtkampf gewinnt – je länger sich dieser Konflikt hinzieht und je größer er wird, desto besser. Zumal dieser Zusammenstoß auch für die Moral der russischen Soldaten vermutlich nicht förderlich ist.
Die Kämpfe und Angriffe gehen unvermindert weiter
Ein militärischer Effekt für die Front in der Ukraine – neben dem nächtlichen Luftangriff, bei dem insgesamt 50 Raketen zum Einsatz kamen – ist aber nicht zu spüren. Die Kämpfe gehen unvermindert weiter. "Bisher verhindern die Aktionen von Prigoschin in keiner Weise die Durchführung und Fortsetzung der Militäreinsätze der russischen Armee auf dem ukrainischen Territorium", sagt der Kiewer Analyst Kostjantyn Maschowez.
Zwar gebe es eine gewisse Destabilisierung der Befehls- und Kontrollprozesse, "aber der Inhalt und Bedeutung der Handlungen der russischen Truppen haben sich nicht verändert", so Maschowez. "Es ist aber durchaus möglich, dass sich das in den nächsten Stunden oder in den kommenden zwei oder drei Tagen ändert."
Ähnlicher Meinung ist Militärexperte und Soldat Stanislaw Besuschko: "Für uns ändert sich nichts", sagt er. "Die Russen fliehen nicht von ihren Stellungen, sie haben die Ukraine in der Nacht wieder beschossen. Wir müssen vor allem an die Ukraine und unsere Verteidiger denken, nicht an Russland und seine Mörder. Jeder dort ist unser Feind."
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