Berlin. „Dschungelkind“ Sabine Kuegler wuchs beim Stamm der Fayu auf. Die Begegnungen dort machten sie todkrank, aber retteten ihr am Ende das Leben.
Die Szenen aus dem Leben mitten im Urwald sind vielen noch lebhaft vor Augen. In dem Millionenbestseller „Dschungelkind“ schrieb die deutsche Autorin Sabine Kuegler (52) über ihre faszinierende Kindheit im Regenwald von Westneuginea, wo sie unter den Mitgliedern des Fayu-Stamms aufwuchs. Voller Begeisterung erzählt sie, wie sie in wilden Flüssen schwamm, jagte, fühlte und handelte wie eine Fayu. Mit 17 Jahren dann ging sie in die Schweiz. Heute lebt die Mutter von vier Kindern in Hamburg. Aber immer wieder zog es Kuegler zurück in den Dschungel. In ihrem zweiten Buch „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“ (Westend-Verlag) wie auch im Interview spricht sie über ihre große Zerrissenheit.
Frau Kuegler, als Erwachsene sind Sie 2012 für einige Jahre in den Dschungel zurückgekehrt. Warum?
Sabine Kuegler: Ich bin mit 17 nach Europa gegangen und seitdem mehrmals zurückgekehrt, um die Fayu zu besuchen. Wahrscheinlich habe ich mir bei einer dieser Reisen einen unbekannten Parasiten eingefangen. Über Jahre wurde ich dann kränker und kränker; irgendwann hat man mir gesagt, man könne nichts mehr für mich tun. Da kam ich auf die Idee, dass ich vielleicht ein Heilmittel bei den Stämmen finden könnte. Und so kam es auch. Aber die Suche hat viel länger gedauert, als ich dachte.
Sie waren insgesamt fünf Jahre unterwegs und wurden schließlich mit einem Gift gerettet, dessen Wirkung ein Stammesangehöriger aus dem Regenwald kannte. Sind Sie nun wieder ganz gesund?
Kuegler: Ja. Ich habe mich in Deutschland komplett durchchecken lassen, für mein Alter bin ich erstaunlich gesund.
Sie beschreiben, wie sicher und verstanden Sie sich im Dschungel wieder fühlten. Als Sie endlich geheilt waren, wollten Sie gar nicht mehr zurück – trotz Ihrer vier Kinder, die hier lebten. Wie kam das?
Kuegler: Als es Zeit war zurückzukehren, bekam ich panische Angst. Ich hatte das Gefühl, ich werde in Europa sterben – weil meine Jahre davor im Westen ein einziger Überlebenskampf waren. Das hielt aber nur einige Wochen, meine Kinder und ich lachen heute darüber.
Bestseller-Autorin gesteht: „Jetzt kann ich auch das Gute am Westen sehen“
Wie war die Zeit im Dschungel?
Kuegler: Ich bin dort eins geworden mit der Natur – das ist aber auch gefährlich. Es war so, als ob ich Wurzeln bekomme, die mich immer stärker festhielten. Ich gab mich dabei ein Stück weit auf, irgendwann verlor ich meine Identität.
Sie waren Zeit Ihres Lebens zerrissen zwischen der Kultur der Fayu und der des Westens. Fühlen Sie sich inzwischen zugehörig in Hamburg, wo Sie leben – oder allgemein in der westlichen Welt?
Kuegler: Ja. Wenn Sie von heute auf morgen in einem Stamm leben sollten, von dem Sie überhaupt nichts verstehen, wären Sie komplett verloren – so, wie ich damals in der westlichen Welt. Als Erwachsene wurde mir zurück in der Welt meiner Kindheit bewusst, dass wir mit einer ganz anderen Kultur und Kommunikation aufgewachsen waren. Das hat mir geholfen, die Missverständnisse und meine Schwierigkeiten zu verstehen. Ich kann jetzt auch das Gute an der westlichen Kultur sehen.
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Zum Beispiel?
Kuegler: Wir sind hier viel freier. Das geht einher damit, dass wir für uns selbst verantwortlich sind. Ich bin in einer Kultur aufgewachsen, in der der Einzelne keine Verantwortung trägt, alles wird in der Gemeinschaft entschieden. In Deutschland hingegen lernen schon Kleinkinder, eigene Entscheidungen zu treffen.
Wie haben Sie gelernt, sich hier geborgen zu fühlen?
Kuegler: Ich habe mich gefragt, was mich im Stamm geborgen fühlen lässt. Es sind die Menschen, von denen ich umgeben bin. Menschen, die mir Gutes wollen, die mich schützen. Im Dschungel war diese Gemeinschaft automatisch da, hier hatte ich nie gelernt, mir so einen Kreis bewusst aufzubauen. In der Vergangenheit stand ich plötzlich allein da, wenn bei mir Sachen schiefliefen, obwohl ich anderen so viel geholfen hatte. Das konnte ich nicht begreifen. Inzwischen weiß ich, wie wichtig es ist, sich seinen eigenen Mini-Stamm aufzubauen.
Außerdem habe ich gelernt, dass ich in der westlichen Welt im Gegensatz zum Dschungel sichtbar sein muss. Früher habe ich versucht, mich zu 100 Prozent anzupassen, weil das bei den Stämmen überlebenswichtig ist. Das mache ich nicht mehr, ich stehe besser für mich ein.
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Kulturelle Missverständnisse geben Ihrem Buch „Ich schwimme nicht mehr da, wo die Krokodile sind“ auch den Titel – was hat es damit auf sich?
Kuegler: Als wir bei den Fayu gelebt haben, schwammen wir eines Tages in einem Fluss, um uns abzukühlen. Die Fayu sahen unserer Familie zu und als mein Vater sie fragte, warum sie nicht auch ins Wasser kommen, haben sie gesagt, dass das doch der Krokodilfluss sei. Wir sind sofort aus dem Wasser und haben gefragt, warum sie uns nicht gewarnt haben. Die Antwort war: Jeder weiß doch, dass das der Fluss ist, in dem wir Krokodile jagen.
Und dieser Satz: „Das weiß doch jeder“, war für mich im Westen eine Qual, weil ich ihn immer wieder gehört habe. Ich kam ständig in schwierige Situationen, weil mich keiner gewarnt hatte. Dann hieß es immer: „Das weiß doch jedes Kind, dass das so und so abläuft.“
„Dschungelkind“-Autorin begegnete Urmensch: „Er hatte sehr wilde, runde, schwarze Augen“
Mit Blick auf die aktuellen Migrationsdebatten: Sehen Sie Parallelen zu Ihrer Lebensgeschichte?
Kuegler: Ich glaube, viele Ausländer haben damit zu kämpfen, dass wir automatisch davon ausgehen, dass sie wissen, wie man sich zu verhalten hat. Es wäre gut, wenn wir ihnen die deutsche Kultur besser erklären. Wie denken Deutsche, was sind ihre Werte, was darf man hier und was nicht? Kulturelle Bildung würde vieles einfacher machen.
Sie haben auf Ihrer Reise nicht nur Heilung erfahren, sondern auch besondere Begegnungen erlebt: Unter anderem sagen Sie, einen Umemu gesehen zu haben, eine Art Urmensch.
Kuegler: Zu den Umemus gibt es verschiedene Theorien. Eine besagt, dass es Menschen sind, die sich evolutionär dem Leben in einer Höhle angepasst haben. Man bräuchte DNA-Tests, um es genau zu wissen.
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Wie sah der Umemu denn aus, der Sie am Lagerfeuer überrascht hat?
Kuegler: Er war klein wie ein Kind, hatte überlange Arme und Beine. Haare und Nägel waren lang, er war sehr dreckig und roch sumpfig. Er hatte sehr wilde, runde, schwarze Augen und ein wunderschönes Gesicht.
Das klingt fast unglaublich!
Kuegler: Ja, es gibt immer noch Teile der Welt, die nicht erforscht sind und Stämme, die noch unentdeckt sind. Aber leider werden es immer weniger, und auch die Umemus sind vom schnellen Aussterben bedroht. Mein Ziel ist es, diese unerforschten Gebiete unter Schutz zu stellen, damit die Menschen und die Natur dort weiter unberührt bleiben.
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Wie geht es den Fayu heute?
Kuegler: Sehr gut. Sie sind der bestgeschützte Stamm, weil sie zu bekannt sind, als dass sich einer auf ihr Land wagt.
Sie kennen zwei gegensätzliche Gesellschaften – wie sieht in Ihren Augen eine ideale Gemeinschaft aus?
Kuegler: Meiner Meinung nach könnten wir hier im Westen absolut fantastisch leben. Wenn wir anfangen würden, besser miteinander umzugehen, wären wir zufriedener. Es heißt, Stammesmitglieder seien glücklicher. Das sind sie aber nicht deshalb, weil sie ohne moderne Annehmlichkeiten leben, sondern weil für sie Freundschaft und Familie wichtiger ist als alles andere im Leben. Davon sollten wir im Westen lernen.
Vielen fehlt vermutlich die Zeit, um die Beziehungen zu pflegen.
Kuegler: Das glaube ich gar nicht. Würde man den Fernseher oder das Handy weglassen, dann hätten wir plötzlich Zeit. Die Menschen haben viel Freizeit, es ist die Frage, wie wir sie nutzen.
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