Berlin. Marco Girnth hat sich viel mit seiner Familiengeschichte auseinandergesetzt. Welche Erfahrung ihn selbst bis heute prägt, verrät er hier.
Seit 2001 ist Marco Girnth mit „SOKO Leipzig“ im deutschen Fernsehen präsent. Aber die letzte Doppelfolge „Plan C“ (ZDF-Mediathek) hatte für den 54–jährigen einen besonderen Stellenwert. Denn sie widmet sich Themen, die zum 80. Jahrestag des Holocaust–Gedenktags am 27. Januar besonders aktuell sind. Im Interview erklärt der Schauspieler, wie er sich selbst mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzte, was ihm sein Vater dazu vermittelte und welche Erfahrungen in jungen Jahren sein Menschenbild für immer prägten.
In der jüngsten Doppelfolge zu „SOKO Leipzig“ ging es um Antisemitismus und die NS-Vergangenheit. Wie sind Sie seinerzeit als Jugendlicher mit diesem Thema konfrontiert worden?
Marco Girnth: Ich bin Jahrgang 1970, und da hatten unsere Lehrer und unser Umfeld noch eine starke Berührung mit dem Nationalsozialismus und dem Holocaust. Mein Vater hat mich seinerzeit vor jede Dokumentation gesetzt, die über die Zeit 1933–1945 zu sehen war. Er war bei Kriegsende zwölf, und er hat mir mit Tränen in den Augen von diesen Gräueltaten berichtet. Dieses Bewusstsein nimmt ab, je länger so etwas zurückliegt. Umso wichtiger finde es, dass man in diese Themenbereiche mit Unterhaltungselementen hineinleuchtet, so wie wir das mit „SOKO Leipzig“ tun.
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Haben Sie Ihren inzwischen 22–jährigen Sohn vor diese Dokumentationen gesetzt?
Girnth: Wir haben viel über diese Thematik geredet. Ich kann mich selbst noch erinnern, als ich mit Anfang 20 „Schindlers Liste“ im Kino gesehen habe und mich diese Aufbereitung des Themas so durchgeschüttelt hat. Solche Filme habe ich auch versucht, ihm ans Herz zu legen.
Wie kann man sich das „Durchschütteln“ vorstellen?
Girnth: Ich war mit meiner damaligen Freundin im Kino. Wir hatten einen konfliktreichen Nachmittag hinter uns und als wir uns diesen Film angeschaut hatten, waren wir so beschämt, dass wir uns über solche Nichtigkeiten aufgeregt hatten.
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Sie erzählten, wie Ihr Vater Ihnen mit Tränen aufgelöst von der Zeit berichtete. Was genau hatte er erlebt?
Girnth: Seine Familie wurde zweimal ausgebombt. Man saß im Keller und wartete den Feuersturm ab. Mein Vater sagte, es fühlte sich an, als wäre man auf einem Schiff auf hoher See unterwegs, so sehr schwankte der Boden. Und seine Eltern konnten ihm keinen Schutz bieten. Wenn man das als Kind erlebt, prägt einen das zutiefst. Er hat auch gesehen, wie die jüdischen Bürger aus ihren Häusern geholt wurden.
Damals konnte er nicht einordnen, was da passiert, und als er das später verstanden hat, hat ihn das zutiefst schockiert. Zumal er als kleiner Junge in der Hitlerjugend und von dieser ganzen Propaganda beeindruckt war. Meine Mutter hatte das nicht durchgemacht, weil sie wurde erst 1945 geboren.
Schauspieler Girnth: So schaut er auf die Fehler seines Vaters
Inwieweit haben diese Erfahrungen Ihre Erziehung geprägt?
Girnth: In der Nachkriegszeit hat mein Vater richtigen Hunger erlebt – der sich einstellt, wenn man mal ein paar Tage nichts gegessen hat. Das führte dazu, dass bei uns zu Hause mit Lebensmitteln sehr vorsichtig umgegangen wurde und nie etwas weggeworfen wurde. Aus dem Grund bin ich heute so etwas wie der Mülleimer meiner Familie. Wenn irgendwo etwas übrig bleibt, heißt es: „Der Marco isst das schon auf.“
Gab es bei Ihrem Vater keine seelischen Verwundungen, die vielleicht in Ihrer Erziehung spürbar wurden?
Girnth: Aus heutiger Sicht schaue ich mit einem sehr milden und liebevollen Blick auf die Fehler meines Vaters und meiner Eltern, die in einer Zeit groß geworden sind, wo man ein tief sitzendes Trauma erfahren hat. Es sind so viele Verbrechen passiert, und über die wurde nicht geredet. Die Kinder, die das erlebt haben, mussten es mit sich selber ausmachen. Aber ich habe jetzt nicht bestimmte Erziehungsmaßnahmen darauf zurückgeführt.
Was ich aber gemerkt habe, war ein erhöhtes Bedürfnis nach finanzieller Absicherung, das ich oft als spießig empfand. Als ich nach dem ersten Jura-Examen sagte, dass ich aussteige, um Schauspieler zu werden, empfand mein Vater das als grundverkehrt.
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Gab es sonst noch Differenzen zwischen Ihnen beiden?
Girnth: Weil er die Kriegsschrecken erlebt hat, hat er die Meinung vertreten, dass wir uns wehrhaft zeigen müssen, damit das nicht wieder passiert. Und meine Generation dachte, dass wir nach dem Mauerfall im Kreis sitzen und Friedenspfeife rauchen können. Deshalb bin ich nicht zur Bundeswehr und habe Ersatzdienst gemacht, was er überhaupt nicht verstehen konnte. Aus jetziger Sicht weiß ich, dass ich damals eine sehr gutgläubige Naivität hatte, aber andererseits bin ich heilfroh, dass ich den Zivildienst machen durfte. Das war eine meiner prägendsten Erfahrungen überhaupt.
Girnth: „Im Nachtdienst war ich auf der Schizophreniestation“
Was genau haben Sie erlebt?
Girnth: Ich war in der Gerontopsychiatrie, wo ich als 19–jähriger auf einer geschlossenen Station mit Alzheimer- oder Parkinson–Patienten konfrontiert war. Am ersten Tag war ich noch zu Tode erschrocken, denn es ist eben nicht schön, wenn du bei einem erwachsenen Menschen die Grundpflege betreiben musst. Ich sagte zum Pflegedienstleiter „Ich weiß nicht, ob ich das kann.“ Und er meinte: „Versuch das mal für zwei Wochen. Wenn du danach sagst, ich will auf jeden Fall eine andere Station, dann bekommst du eine leichtere.“ Und nach zwei Wochen wollte ich nicht mehr weg und bin die ganzen 15 Monate geblieben.
Was hat Ihren Sinneswandel bewirkt?
Girnth: Wenn du jemand morgens grundversorgt hast und er sitzt wieder sauber rasiert am Frühstückstisch, da erlebst du eine solche Dankbarkeit. Die Liebe, die ich zurückbekommen habe, hat mich völlig fasziniert. Ich habe sogar kurz mit dem Gedanken gespielt, Krankenpfleger zu werden. Ich hatte danach in demselben Haus eine halbe Stelle, um mir mein Studium zu finanzieren. Ich war zunächst auf der Alkoholiker–Entgiftungsstation, was mir sehr viel über unser Trinkverhalten beigebracht hat, und darauf im Nachtdienst auf der Schizophreniestation.
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Ihr Sohn hat ja diese Erfahrungen nicht gemacht.
Girnth: In der Tat hätte ich mir für ihn ein verpflichtendes soziales Jahr oder Halbjahr gewünscht. Aber er hat auch so viel Empathie gelernt. Und genau darum geht es letzten Endes – um die Fähigkeit, sich ehrlich in die Gefühlslage eines anderen Menschen hineinzuversetzen.