Berlin. Rammstein ist nach dem Skandal um Till Lindemann wieder auf Tour. Ein Musiksoziologe erklärt, was das über Fans und die Branche aussagt.

Die Band Rammstein steht erneut auf den großen Bühnen der Welt. Nachdem das Ermittlungsverfahren gegen Frontsänger Till Lindemann wegen Sexualdelikten und der Abgabe von Betäubungsmitteln eingestellt wurde, ist die Band wieder auf großer Tour. Der 61-jährige Lindemann selbst hatte die Anschuldigungen ihm gegenüber stets bestritten.

Musiksoziologe Rainer Prokop von der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien erklärt im Interview, was der ungebrochene Erfolg von Rammstein über Fans und die Musikindustrie aussagt.

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Rammstein ist seit den 1990er Jahren eine bedeutende Größe in der deutschen und internationalen Musikszene. Warum ist die Band sowohl national als auch international so einflussreich? 

Rainer Prokop: Ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren ist dafür ausschlaggebend. Rammstein hat ein großes Netzwerk in der internationalen Musikindustrie. Das reicht von Major-Labels bis zum größten deutschen Veranstaltungskonzern. Ein weiterer bedeutender Faktor ist die Selbstvermarktung Rammsteins. Die Band setzt auf Provokation und Ambivalenz. Das ist etwas, was sehr viele Musikkonsumenten und -konsumentinnen anspricht, weil Rock- und Popmusik seit jeher auf Rebellion gegen gesellschaftliche Konventionen und gegen weiße bürgerliche Vorstellungen eines „guten“ Lebens abzielt. Eng damit verbunden ist bei Rammstein die Verkörperung einer dominanten weißen Männlichkeit auf der Bühne, aber auch im Geschäftsleben. 

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Rammstein: Soziologe kritisiert fehlende Solidarität mit den Frauen

Dieses Image scheint weiterhin zu funktionieren. Rammstein hat über Jahre eine starke und emotionale Bindung zu seinen Fans aufgebaut, die sich oft intensiv mit der Band identifizieren. Kann man sich so erklären, dass viele Fans während des Skandals für ihre Idole so in die Bresche gesprungen sind?

Prokop: Das ist eine Frage, die die Rammstein-Fans sicher am besten beantworten können. Der Erfolg, den Rammstein trotz der schweren Vorwürfe hat, zeigt mindestens zweierlei: dass es erstens wenig Solidarität mit den Frauen gibt, die die Vorwürfe artikuliert haben. Im Gegenteil: Sie werden von vielen sogar für den Skandal verantwortlich gemacht. Das heißt, es wird Victim-Blaming betrieben. Zweitens zeigt es aber auch, dass es schlecht um die Reflexion und Selbstreflexion der Rammstein-Fans bestellt ist.

Till Lindemann feuert auf der Bühne mit einem Flammenwerfer auf Band-Mitglied Christian Lorenz.
Till Lindemann feuert auf der Bühne mit einem Flammenwerfer auf Band-Mitglied Christian Lorenz. © Malte Krudewig/dpa | Unbekannt

Viele Fans argumentieren mit der Unterscheidung zwischen Kunst und Künstler. Inwiefern spielt das eine Rolle in der Wahrnehmung und Akzeptanz solcher Vorwürfe? 

Prokop: Ich verstehe die Trennung zwischen Kunst und Künstler eigentlich als eine Ausrede, sich nicht überlegen zu müssen, wie ich mich als Konsument oder Konsumentin gegenüber Artists positioniere, die mit Gewaltvorwürfen konfrontiert sind und Gewalt zu ihrem Markenzeichen erheben. Es ist meines Erachtens nicht möglich, den aggressiven Stil Rammsteins von ihrem aggressiven juristischen Vorgehen gegen die Frauen, die die Vorwürfe erhoben haben, zu trennen. In beiden Situationen spielt weiße, männliche Aggression eine zentrale Rolle – einmal auf der Konzertbühne, einmal im Alltagsleben.

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Nun ist Rammstein wieder auf Tour und spielt in ausverkauften Stadien. Hat Sie überrascht, wie Rammstein und die Musiklandschaft mit den Vorwürfen umgegangen sind?

Prokop: Diese Entwicklungen sind nicht besonders überraschend, aber deprimierend, weil sie darauf verweisen, wie die Musikindustrie zur Reproduktion von sozialen Ungleichheiten beiträgt: Wer das Geld für teure Anwälte hat und in der Position ist, stark hierarchische Unterordnungsverhältnisse zu schaffen, hat die besten Voraussetzungen, sich gegen Vorwürfe von Machtmissbrauch durchzusetzen. Und diese Entwicklungen zeigen auch, wie politische Kämpfe gegen soziale Ungerechtigkeit und Gewalt in der Popkultur untergraben und verhindert werden.

Rammstein-Fall nicht allein in der Musikbranche

Liegt das auch daran, dass sogenannte Groupies in der Branche immer noch als Selbstverständlichkeit gesehen werden? 

Prokop: Wie zahlreiche Studien belegen, wird die Musikindustrie hauptsächlich von weißen Männern und ihren männerbündischen Netzwerken dominiert. Das ist einer der Gründe, warum Sexismus, sexualisierte Gewalt und Rassismus in der Musikindustrie normalisiert, toleriert und gedeckt werden. Die Abwertung von weiblichen Musikfans als „Groupies“ fügt sich nahtlos in diese Machtverhältnisse, weil ihr popkulturelles Wissen negiert wird und sie sexualisiert werden. 

Rammsteins Plattenfirma Universal hat 2023 nach Bekanntwerden der Vorwürfe angekündigt, die Zusammenarbeit mit der Band erst einmal zurückzufahren. Welche Verantwortung tragen Musiklabels und Managementteams, wenn Künstler schwerwiegender Vorwürfe beschuldigt werden? 

Prokop: Alle Organisationen in der Musikindustrie tragen eine Verantwortung, und sie müssen endlich damit beginnen, das Leben von Frauen und Minderheiten über ihre Profitlogik zu stellen. Dafür bräuchte es aber einen politischen Willen zur Veränderung. Den sehe ich aktuell und ganz konkret am Beispiel Rammstein mit ganz wenigen Ausnahmen nicht. 

In Dresden forderten Demonstrierende vor einem Rammstein-Konzert Konsequenzen – vor Gericht und auf der Bühne.
In Dresden forderten Demonstrierende vor einem Rammstein-Konzert Konsequenzen – vor Gericht und auf der Bühne. © DPA Images | Sebastian Kahnert

Und wie könnte diese Veränderung aussehen? 

Prokop: Es gibt mittlerweile viele Ansätze, Geschlechtergerechtigkeit und Diversität auf den unterschiedlichen Ebenen der Musikindustrie voranzutreiben: vom Management über das Signen von Artists bis hin zum Marketing und Booking. Das Rad muss keineswegs neu erfunden werden, aber – wie bereits erwähnt – es braucht einen politischen Willen. Und um nur ein Beispiel zu nennen: Die weißen, männlich dominierten Strukturen könnten aufgebrochen werden, indem mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die nicht weiß und/oder heterosexuell sind, in Entscheidungspositionen eingestellt werden. 

Rammstein: Warum Berichterstattung so wichtig ist

Kürzlich veröffentlichten NDR und SZ einen Podcast, in dem neue Details zur Causa Rammstein bekannt wurden. Wie wird es für die Band Ihrer Einschätzung nach weitergehen?

Prokop: Lindemann hat 2024 ein Gedicht veröffentlicht, in dem er sagt: „Es geht weiter“. Und so wie es aussieht, bewahrheitet sich dieses Gedicht: Rammstein ist wieder auf Tour. Meines Wissens gibt es zwar ein paar wenige Veranstaltungsagenturen, die die Zusammenarbeit mit Rammstein aufgekündigt oder pausiert haben, aber ich bin gespannt, ob sie auch in Zukunft an ihrer Entscheidung festhalten werden. Wie wir aus vergangenen Beispielen wissen, wollen die Verantwortlichen in der Musikindustrie so schnell wie möglich zu „business as usual“ zurückkehren. Darum ist es so wichtig, dass die Medien über Gewaltvorwürfe berichten, die gegen Bands wie Rammstein erhoben werden.