Braunschweig. Der Verdächtige im Fall Maddie steht wegen anderer Sexualstraftaten vor Gericht. Nach wenigen Minuten wurde der Prozess unterbrochen.

Vor dem Landgericht im niedersächsischen Braunschweig hat am Freitag der Prozess gegen den deutschen Verdächtigen im Fall des 2007 verschwundenen britischen Mädchens Madeleine „Maddie“ McCannwegen mehrerer damit nicht im Zusammenhang stehender Sexualverbrechen begonnen – und wurde nach wenigen Minuten bereits wieder unterbrochen. Gegenstand des Prozesses sind Taten, die der Beschuldigte Christian B. in den Jahren 2000 bis 2017 in Portugal begangen haben soll. Geplant sind Verhandlungstermine bis Juni.

Für B. geht es darum, ob er für den Rest seines Lebens hinter Gittern muss – und für die Öffentlichkeit, ob Beweise, Gutachten, Aussagen und Zeugen zu neuen Erkenntnissen in einem Fall führen, der seit mehr als 15 Jahren Rätseln aufgibt: das Verschwinden der Maddie.

Noch vor der Personalienvorstellung am Freitagmorgen gibt es einen Hammer am Braunschweiger Landgericht: Eine Schöffin wird von Verteidiger Friedrich Fülscher abgelehnt. Sie soll auf X (ehemals Twitter) diskussionswürdige Beiträge erstellt haben. Unter anderem soll sie 2019 zur Tötung des brasilianischen Staatspräsidenten Jair Bolsonaro aufgerufen haben wegen der Abholzung des Regenwalds („Tötet den Teufel“). Die Kammer zieht sich zur Beratung eine halbe Stunde zurück – und verkündet dann: Die Schöffin wird ausgetauscht, der Prozess für diesen Tag unterbrochen. Die Staatsanwaltschaft will ein Verfahren gegen die Frau prüfen. Das Gericht hatte vorsorglich als Back-up bereits zwei weitere Schöffen und einen Ersatzrichter benannt.

Kurz zuvor hatte der Angeklagte Christian B. den Saal betreten – bekleidet mit einem fliederfarbenen Hemd mit weißen Streifen und einem hellgrauen Sakko. Der dunkelblonde, schlanke Mann verdeckte nicht sein Gesicht und wirkte gefasst. Der 47-Jährige nahm zwischen seinen vier Verteidigern Platz.

Verdächtiger im Fall Maddie: Großer Andrang vor Prozessbeginn

Schon früh am Morgen war einiges am Landgericht in Braunschweig los: Ein halbes Dutzend Kamerateams hatte sich postiert, es sind deutsche wie auch englischsprachige Medienvertreter vor Ort. So wurden die kurz vor 8 Uhr eintreffenden Anwälte von Christian B. abgepasst – auch am Hintereingang warteten Fotografen auf den Gefangenentransporter. Vor der Tür des Landgerichts bildete sich eine Traube.

Ein Fahrzeug der Justiz fährt mit dem Angeklagten Christian B. am Morgen des Prozessbeginns in einen Innenhof des Landgerichts Braunschweig.
Ein Fahrzeug der Justiz fährt mit dem Angeklagten Christian B. am Morgen des Prozessbeginns in einen Innenhof des Landgerichts Braunschweig. © DPA Images | Fernando Martinez

Für 9 Uhr war der Prozessbeginn vorgesehen. Der Andrang an Presse sowie Zuschauerinnen und Zuschauern war jedoch so groß, dass zu diesem Zeitpunkt erst ein Drittel der Interessierten im Saal war. Sie alle mussten die Sicherheitsschleusen am Eingang und vor dem Saal passieren. Der Start verzögerte sich also. Die letzten Zuschauerinnen und Zuschauer kamen gegen 9.40 Uhr in den Gerichtssaal. Der Raum ist mit einer Glasscheibe abgetrennt – davor drängelten sich Kamerateams, um das beste Bild von dem Angeklagten zu bekommen.

Der Andrang an Presse und Zuschauern war am Morgen groß.
Der Andrang an Presse und Zuschauern war am Morgen groß. © DPA Images | Moritz Frankenberg

Vor Gericht geht es nicht um den Fall Maddie

Der Fall Maddie sorgt nach wie vor national wie international für großes Interesse. Im Mai 2007 war sie im Alter von drei Jahren aus einem Hotelzimmer in Portugal spurlos verschwunden, wo ihre Familie Urlaub machte. Jahre später kam der 47-jährige Deutsche ins Visier der Ermittler, weil er am selben Ort – Praia da Luz an der Algarve – zwei Jahre zuvor eine 72-jährige Amerikanerin vergewaltigt hatte. Vor der Jugendstrafkammer des Landesgerichts Braunschweig steht er, weil die Stadt offiziell sein letzter Wohnort war. 29 Verhandlungstage sind bis Juni angesetzt.

Die Eltern des Kindes, ein englisches Ärztepaar, möchten endlich Gewissheit haben. Sie haben nie aufgehört, weltweit nach „Maddie“ zu suchen und gerieten zwischenzeitlich selbst in Verdacht. Sie haben unglaublich viel durchgemacht. Kein Wunder, dass das Interesse am Prozess vor dem Gericht in Braunschweig gerade in Großbritannien sehr groß ist. Fakt ist:

  • B. war nahe am Tatort.
  • Und er gilt als Triebtäter.
  • Der Verdächtige weist jede Schuld von sich.
  • Auch nach fünfjährigen Ermittlungen reichte es nicht für eine Anklage.
  • Vor Gericht geht es nicht um den Fall Maddie.

In der über 100 Seiten langen Anklage werfen ihm die Strafverfolgungsbehörden drei schwere Vergewaltigungen und zwei Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern vor. Wie es heißt, gingen der Anklage „mehrjährige, sehr intensive und aufwendige Ermittlungen in mehreren europäischen Ländern, insbesondere durch das Bundeskriminalamt“ voraus.

In Braunschweig geht es unter anderem um eine Irin, die B. 2004 in Portugal mutmaßlich brutal vergewaltigte haben soll. Dass es sich bei B. um ihren Peiniger handeln könnte, wurde ihr durch die Berichterstattung über die Vergewaltigung der Amerikanerin klar. Sie habe sich beim Lesen übergeben müssen, „weil es mich direkt wieder zu meiner Erfahrung transportiert hat“, sagte sie im Jahr 2020 dem „Guardian“. Erwartet werde, dass die Frau als erste ihre Aussage machen werde, berichtete die „Daily Mail“ unter Berufung auf die Staatsanwaltschaft. Das könne mehrere Tage dauern.

Das sind die Anklagepunkte:

  1. Zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt zwischen Dezember 2000 und April 2006 soll Christian B. eine unbekannt gebliebene, zwischen 70 und 80 Jahre alte Frau in ihrer Ferienwohnung in Portugal im Schlafzimmer überrascht, gefesselt und vergewaltigt haben. Danach soll der maskierte Angeschuldigte mehrfach mit einer Peitsche auf sein Opfer eingeschlagen haben. Das gesamte Geschehen soll er mit einer Videokamera aufgezeichnet haben. Zeugen aus dem Bekanntenkreis des Angeklagten berichteten später, die Vergewaltigungsszene auf einem Videofilm aus dem Haus des Angeklagten entdeckt zu haben.
  2. Im selben Zeitraum soll Christian B. ein ebenfalls unbekannt gebliebenes, deutschsprachiges Mädchen im Alter von mindestens 14 Jahren in seinem Haus in Praia da Luz in Portugal nackt an einen Holzpfahl im Wohnzimmer gefesselt, mit einer Peitsche geschlagen und die Jugendliche brutal zum Oralverkehr gezwungen haben. Auch dieser Anklagepunkt stützt sich auf Zeugenaussagen über eine Videoaufzeichnung des Tatgeschehens.
  3. Am 16. Juni 2004 gegen 3 Uhr nachts soll Christian B. in Praia da Rocha in Portugal maskiert über den Balkon in das Appartement einer damals 20-jährigen Frau aus Irland eingestiegen sein, die schlafende Frau unter Vorhalt eines Messers geweckt und brutal vergewaltigt haben. Anschließend, heißt es weiter in der Anklage, habe er die Frau an einen Tisch gefesselt, sie geknebelt und erneut vergewaltigt. Auch bei dieser Tat soll er sein Opfer mit einer mitgebrachten Peitsche auf dem Rücken ausgepeitscht und schließlich gewaltsam zum Oralverkehr gezwungen haben. Das Verbrechen soll er auch in diesem Fall mit einer Videokamera gefilmt haben.
  4. Am 7. April 2007 – also knapp einen Monat vor Maddies Verschwinden aus einem Hotelzimmer am 3. Mai 2007 – soll Christian B. nachmittags an einem Strandabschnitt von Salema im Distrikt Faro in Portugal nur mit Schuhen bekleidet und ansonsten nackt einem dort an den Felsen spielenden zehnjährigen deutschen Mädchen hinter einem Felsloch aufgelauert haben. Laut Anklage packte er das Kind am Handgelenk, begann zu masturbieren und forderte es grinsend zum Zuschauen auf. Nach dem Samenerguss soll er das Kind losgelassen haben und geflüchtet sein.
  5. Am 11. Juni 2017 soll der Angeklagte nachts gegen 2 Uhr während des sogenannten Schneckenfestes auf einem Spielplatz in Bartolomeu de Messines in Portugal Blickkontakt zu einem 11-jährigen portugiesischen Mädchen aufgenommen haben, das auf einer Schaukel saß. Dabei soll er seine Hose und Unterhose heruntergezogen und masturbiert haben, bis das erschrockene Mädchen Hilfe suchend zu ihrem Vater lief. Christian B. wurde noch vor Ort von der portugiesischen Polizei festgenommen.

Verteidiger von Cristian B.: „Wir wollen Freisprüche“

„Wir wollen Freisprüche“, sagte Verteidiger Friedrich Fülscher aus Kiel der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Das gelte für sämtliche Anklagepunkte. Ob sich sein Mandant vor Gericht äußern werde oder plane, zu schweigen, ließ der Anwalt offen. Trotz massiver Vorverurteilungen in der Öffentlichkeit hoffe er auf ein faires Verfahren für seinen Mandanten, sagte Fülscher schon im vergangenen Herbst zur Prozessankündigung.

Derzeit verbüßt Christian B. die siebenjährige Haftstrafe wegen der Vergewaltigung der US-Amerikanerin. Mehr als zwei Drittel davon sind vollstreckt. Nun droht ihm gar eine zweistellige Freiheitsstrafe. „Nach Aktenlage muss der Angeklagte mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren rechnen“, sagte Oberstaatsanwalt Hans Christian Wolters der dpa. In Betracht käme auch eine anschließende Sicherungsverwahrung zum Schutz der Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern.

Mehr zum Prozess lesen Sie bei der „Braunschweiger Zeitung“, die wie dieses Portal zur FUNKE Mediengruppe gehört.

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