Berlin. Temposünder kaufen sich Fahrer, die Strafpunkte auf ihre Kappe nehmen. Ein Geschäftsmodell in der Grauzone.
Notorische Verkehrssünder sind eine kleine Gruppe. Auf ihr Konto geht allerdings laut Verkehrsforschern der Großteil der Regelverletzungen. Es gibt eine Strafe, von der man sich eine disziplinierende Wirkung verspricht: der Führerscheinentzug.
Bei acht Punkten beim Kraftfahrt-Bundesamt in Flensburg wird eine rote Linie übertreten: Dann wird die Fahrerlaubnis entzogen. Oder auch nicht.
Lesen Sie den Kommentar dazu: Punktehandel in Flensburg: Andere Länder zeigen, wie es geht
Experten ärgern sich seit Jahren über den sogenannten Punktehandel. Auch im Vorfeld des Verkehrsgerichtstags, der am 24. Januar traditionell in Goslar beginnt, wird eine Debatte über diese gesetzliche Grauzone erwartet.
Unfallforscher: „Eine irre Sauerei“
Vor ein paar Tagen googelte Siegfried Brockmann ein Begriffspaar: „Punktehandel“ und „Flensburg“. Er stieß gleich auf viele Makler, die einen passenden Fahrer anbieten, der für Temposünder eine Strafe auf sich nimmt. Kosten: Ab 330 Euro.
Brockmann ist kein Jurist, sondern Unfallforscher. In Berlin leitet er die Unfallforschung der Versicherer (UDV). Er kann auf Anfrage unserer Redaktion nicht beziffern, wie häufig so ein Handel ist. Aber er kann erklären, wie einfach es einem gemacht wird und für wen es interessant ist: für die Autofahrer, die kurz davor stehen, den achten Punkt zu bekommen. 2022 wurden in etwa 4,1 Millionen Fällen Punkte an Autofahrer wegen Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten verteilt. Allein wegen überhöhter Geschwindigkeit wurden 127.000 Mal Fahrer geblitzt.
Identifikation scheitert oft am Aufwand
Punktehandel? „Allein die Tatsache“ ärgere ihn. Umso mehr, als nach Brockmanns Erfahrung 90 Prozent der Regelverletzungen im Straßenverkehr auf 15 Prozent der Verkehrssünder zurückgehen. Der Punktehandel hebele die erzieherische Wirkung aus, weshalb überhaupt in Flensburg ein Fahreignungsregister mit Punkten geführt werde. „Eine irre Sauerei“, ärgert sich der Experte.
Wenn jemand zu schnell fährt, von einem Radargerät erwischt und geblitzt wird, bekommt der Halter des Autos alsbald einen Anhörungs- oder Zeugenfragebogen zusammen mit einem Foto. Oft ist es ein stark gekörntes Bild, vielleicht auch etwas unscharf. Wenn sie oder er vielleicht auch noch eine Sonnenbrille trägt, ist die Identifizierung nicht einfach.
Wenn der Halter sich nicht erklärt und Aussagen zum Fahrer verweigert, können die Behörden als Vergleich die Fotos von Personalausweis oder Führerschein heranziehen. Im Zweifelsfall kann es auch passieren, dass die Polizei mit dem Blitzerfoto an der Tür klopft oder die Nachbarn befragt, ob sie die Person auf dem Bild erkennen.
Die Beamten ärgern sich seit langem, dass sie davon abgehalten werden, ihrer Hauptaufgabe nachzugehen: der Verbrecherjagd. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Behörden mithin die Suche aufgeben, weil ihnen die Zeit und/oder die Ressourcen für eine aufwendige Identifizierung fehlen.
Das Geschäftsmodell mit den Punkten
Wer jedes Risiko, überführt zu werden, vermeiden will, behilft sich mit einem anderen Fahrer. Das ist das Geschäftsmodell der Punktemakler. Nicht der tatsächliche, sondern ein anderer Fahrer meldet sich dann selbst bei den Behörden. Dieses Detail ist wichtig, denn:
- Rechtlich handelt es sich weder um eine falsche Verdächtigung
- noch um das Vortäuschen einer Straftat, da meist nur eine Ordnungswidrigkeit im Raume steht.
Im Prinzip kann man im Laufe der Zeit unterschiedliche Fahrer für sich ausgeben. Bei wechselnden Bußgeldstellen, nicht untypisch bei Autobahnfahrern, wird das kaum auffallen. Es gibt keinen Grund, die Fotos von Personen aus längst abgeschlossenen Fällen deutschlandweit behördenintern auszutauschen.
Punktemakler wirbt mit 4000 zufriedenen Kunden
Professionelle Anbieter achten darauf, dass sie aus ihrer Datenbank jemand nehmen, der von Geschlecht und Alter und vielleicht auch vom Typ dem Halter ähnelt. Wenn er obendrein im Ausland lebt, wird der Identifizierungsprozess für die Behörden noch aufwendiger und zeitraubender.
Einer der Makler, auf die unsere Redaktion bei den Recherchen gestoßen ist, wirbt mit „4000 zufriedenen Kunden“ in fünf Jahren und mit einer Erfolgsquote von „94“. Was die Frage nach dem Restrisiko aufwirft. Wenn der Schwindel auffliegt, bleibt es bei der Ahndung des Verkehrsverstoßes.
Halterhaftung oder neuer Straftatbestand
Seit mehr als zehn Jahren fordert die Polizeigewerkschaft von der Verkehrspolitik, „dass die Halterhaftung in Deutschland eingeführt wird“. So wie in vielen anderen EU-Staaten wie in Frankreich, Irland, Griechenland, Niederlande, Österreich, Spanien, Portugal oder Ungarn. Die Gewerkschaft hat mal ausgerechnet, dass die Jahresarbeitszeit von mindestens 2000 Polizisten nötig sei, „um faule Ausreden von Rasern zu widerlegen“. An einzelnen Radarmessstellen könne die Ausfallquote bis zu 40 Prozent betragen.
Ein neuer Straftatbestand könnte nach Ansicht von Verkehrsforscher Brockmann zumindest den Druck auf die Täter erhöhen. Er setzt auf die Abschreckung, auf die Drohkulisse, wohl wissend, dass auch dann jemand erst einmal überführt werden muss, wenn doch ein anderer für in einspringt. Aufwendig bleibt die zeit- und personal aufwendige Überprüfung. Wenn nichts passiert, haben es die Punktehändler leicht.
Punktehandel kein „Kavaliersdelikt“
Zuletzt räumte das Bundesjustizministerium „wertungswidrige Sanktionslücken“ ein. Die gelte es zu schließen, erklärte das Ministerium der „Welt“. Der Punktehandel widerspreche der gesetzlichen Intention, dass derjenige, der den Verkehrsverstoß begangen hat, auch die dafür vorgesehene Sanktion tragen müsse.
Das Kraftfahrtbundesamt vertritt seit mehr als 20 Jahren eine andere Rechtsauffassung. Wer den Punktehandel betreibe, mache sich der gemeinschaftlichen mittelbaren Falschbeurkundung strafbar, wenn er unwahre Erklärungen über Geschehnisse abgebe. Der Punktehandel sei kein „Kavaliersdelikt“.