Berlin. Früher Punker, heute Veganer? Der Sternekoch Tim Raue über Fleischverzicht in der Ernährung als neue Rebellion und derbe Küchensprache.

Gerade zur Weihnachtszeit geht es immer wieder um das Thema Essen: Einer, der wissen muss, was schmeckt und was gut ankommt, ist SternekochTim Raue (47). Sein gleichnamiges Restaurant, das er 2010 gemeinsam mit seiner Geschäftspartnerin Marie-Anne Wild in Berlin eröffnete, darf sich mit zwei Michelin-Sternen schmücken. Ein Gespräch mit dem Meisterkoch über den Wert einer guten Mahlzeit, die deutsche Esskultur und wie man sich durchboxt – als Gastronom und im Leben.

Was kostet ein gutes Schnitzel?

Tim Raue: Ich habe erst vor ein paar Tagen das beste Schnitzel meines Lebens gegessen. Das Fleisch innen saftig und zart. Für die Panade ein sehr ausgesuchtes Brotmehl, und jedes Schnitzel einzeln in einer Sauteuse...

…einem pfannenartigen Topf…

Raue: ...mit Öl und dann einem Löffel Butter gemacht. Dazu ein perfekter Kartoffelsalat mit einem Hauch Kürbisöl und einem rahmigen Gurkensalat. Das kostet rund 36 Euro.

Tim Raue: Warum Kochen auch mit Nationalstolz zu tun hat

Und wenn die Mehrwertsteuer angehoben wird, kommt das noch obendrauf?

Raue: Welcher Ökonom kann es sich leisten, eine Steuererhöhung nicht eins zu eins weiterzugeben?

Für Tim Raue ist klar: „Essen kostet, es hat einen Wert“
Für Tim Raue ist klar: „Essen kostet, es hat einen Wert“ © picture-alliance | Johannes Simon

Aber dann bleiben womöglich Gäste weg, werden Restaurants schließen müssen.

Raue: Ich bin Tim Raue, ich spreche über mich. Ich spreche generell nicht über andere – und wenn, dann nur gut. Das ist etwas, was mir meine Großmutter beigebracht hat. Aber Essen kostet, es hat einen Wert.

Gibt es so etwas wie eine deutsche Esskultur?

Raue: Natürlich! Nur haben wir aufgrund des Zweiten Weltkrieges ein Problem mit nationaler Identität und darum auch kein gesundes Verhältnis dazu. Das bedeutet, dass wir in der Kochausbildung zum Beispiel alles auf französisch lernen und relativ wenig über unsere eigenen Wurzeln. Darum tun wir uns auch schwer, eine Schweinshaxe mit Sauerkraut auf eine moderne, zeitgemäße Art zu interpretieren. Anders als in Frankreich sind wir nicht stolz auf unsere Produkte.

Was würde Stolz ändern?

Raue: Unsere französischen Nachbarn würden auch nie auf die Idee kommen, irgendeine Butter zu nehmen, wenn sie die Qualität aus der Bretagne haben können. Da haben wir in Deutschland Nachholbedarf. Wir brauchen ein besseres Bewusstsein für gute Ernährung. Aber die junge Generation ist der 15 Meter langen Wurstregale im Supermarkt ja bereits überdrüssig.

Sterne-Koch: Beim Essverhalten können die Alten von den Jungen lernen

Vegan ist besser?

Raue: Sich vegan zu ernähren, das ist natürlich ein Teil Rebellion. In meiner Jugend wollten die Rebellen Punker sein, heute sind die Rebellen Veganer. Sie haben einen anderen Bezug zu dieser Erde, essen weniger Fleisch, um das Klima nicht zu belasten, Tiere zu schonen. Da können wir Älteren durchaus lernen.

Der Berliner Spitzenkoch will Veganerinnen und Vegetarier nicht außen vor lassen.
Der Berliner Spitzenkoch will Veganerinnen und Vegetarier nicht außen vor lassen. © picture-alliance | Gerald Matzka

Fleischlose Gerichte sollten auf jede Speisekarte?

Raue: Ich habe vier Restaurants auf Kreuzfahrtschiffen. Früher haben vielleicht vier Gäste pro Jahr nach Vegetarischem gefragt, heute essen sieben Prozent unserer Gäste dort vegetarisch oder vegan. Wer heute noch darauf verzichtet, vegane Gerichte anzubieten, der lädt viele aus, also muss man sich fragen: Möchte ich diese Gäste oder nicht?

„Du Arschloch“: Deshalb geht es in der Gastronomie häufig ruppig zu

Gibt es beliebte und weniger beliebte Gäste?

Raue: Ich versuche meinen Gästen immer mitzugeben: Wenn du eine Unverträglichkeit oder eine Allergie hast, dann sei so nett, und äußere sie im Vorfeld, weil dann die Küche auf dich Rücksicht nehmen kann. Das ist wie bei einer Einladung zuhause. Wenn alle schon da sitzen, du alles gekocht hast, du dich auf den Abend freust und der erste sagt: „Ich kann keine Haselnüsse essen“, der Zweite: „Ich keinen Koriander“, und der Dritte hat eine Glutenunverträglichkeit, dann kommst du ins Schwimmen. Das ist blöd.

Dann wird der Ton in der Küche rau?

Raue: Gastronomie ist ein Job, in dem du meistens zu viel Arbeit in zu kurzer Zeit zu verrichten hast mit zu wenig Mitarbeitern. Warum gibt es diese Reservierungszeiten um 18.00, 18.15 oder 18.30? Das ist keine Spaßnummer und keine Zurechtweisung, sondern man möchte alle 15 Minuten zum Beispiel zehn Gäste haben. Kommen die einen eine Viertelstunde früher oder später, werden aus 10 gleich 20 Gäste und aus 10 Bestellungen 20. Und dann gibt es in der Küche dieses Gefühl, in der Scheiße zu sein – und das ist man dann mit beiden Füßen.

Hört sich nicht gut an.

Raue: Dann entsteht Stress. Und in diesem Stress ist es dann wie auf dem Fußballplatz auch, da sagst du dann nicht Hallihallo, du hast mir hier auf den Fuß getreten, und das finde ich aber nicht gut. Sondern du sagt: Du Arschloch, wenn Du das nochmal machst, dann sense ich dich um! Dann wird es klar und eindeutig. Das ist so. Solange da keiner beleidigt wird, ist das ein Umgang mit Stress, der wichtig ist, weil der auch rausmuss. Sonst trägt man ihn mit nach Hause. Und dann ertränkt man ihn vielleicht mit einer Flasche Wein.

„Ich bin kein Freund von zu viel Streicheleinheiten“

Finden Sie dafür noch Leute?

Raue: Wir können heute nicht mehr aus dem Fundus schöpfen wie vor fünf oder zehn Jahren. Da hatten wir so viele Bewerber, dass wir uns entscheiden konnten, wen wir nehmen. Ich glaube, es ist entscheidend, ein authentischer, ehrlicher Arbeitgeber zu sein. Ich bin auch kein Freund von zu viel Streicheleinheiten.

Tim Raue erinnert sich in stressigen Zeiten an seine Jugend: „Ich komme aus blanker Armut.“
Tim Raue erinnert sich in stressigen Zeiten an seine Jugend: „Ich komme aus blanker Armut.“ © picture-alliance | Robert Schmiegelt/Geisler-Fotopr

Ihre Idee von Arbeit?

Raue: Ich bin kein Anhänger der 4-Tage-Woche. Ich sehe auch keinen Sinn darin, nur sechs Stunden am Tag zu arbeiten. Wir sagen beim Probearbeiten ganz ehrlich, welches Investment, welches Engagement wir uns von den Mitarbeitern erwarten, damit sie Teil des Ganzen werden. Sie können sich bei uns weiterentwickeln. Das funktioniert bisher gut.

Wer Erfolg haben will, muss fleißig sein?

Raue: Man muss gar nichts. Ich bin dankbar, dass ich arbeiten darf. Ich arbeite 6 Tage die Woche von sehr früh morgens bis sehr spät abends. Ich komme aus blanker Armut. Am liebsten wäre ich Architekt oder Innendesigner geworden. Aber leider habe ich das Schulsystem in Deutschland nicht verstanden. Mir wurde gesagt, ich könne als Maler und Lackierer, als Landschaftsgärtner oder als Koch anfangen.

Raue: Warum es im Leben guttut, auch mal „auf die Fresse zu fallen“

Koch war nur eine Notlösung?

Raue: Als Kind hatte ich immer Hunger. Wenn Du in der Küche stehst, hast Du zumindest was zu futtern, dachte ich. Und mit der Wucht, die ich auf der Straße gelernt habe, wo Fleiß mehr als Talent galt, habe ich mich dann durchgesetzt. Ich konnte zwei Schichten am Tag runterackern, während die anderen bei acht oder neun Stunden fertig waren. Und dann habe ich an mir weiter gearbeitet, bis ich besser kochen konnte.

Klar habe ich heute auch Momente, wo das für mich Stress ist. Mir mehr Zeit zu nehmen, und runterzukommen, daran arbeite ich immer noch. Aber Sie werden von mir kein Jammern hören, Jammern finde ich das Letzte, das bringt niemanden weiter. Für mich gehört zum Leben dazu…

…sich durchzuboxen?

Raue: Nie aufgeben, immer reflektieren, sich Fehler einzugestehen, ja. Das ist keine typische deutsche Sache. Auf die Fresse fallen und besser informiert aufzustehen, macht mir aber wirklich Freude.

Kochen Sie eigentlich noch für sich selbst?

Raue: Nein, schon seit Jahrzehnten nicht mehr, aber ich habe im Kühlschrank immer eine Packung Speiseeis. Ich liebe Speiseeis.