Berlin. Ganz untypischer Katastrophenfilm: „Leave the World Behind“ erzählt vom Beginn eines Deasters – und den Ur-Ängsten der Betroffenen.
Noch einer! Filmische Weltuntergänge gibt es wahrlich genug. Und in diesen Tagen, da die reale Welt genug verrückt spielt, mag man sich das erst recht nicht antun. Das sind so erste Abwehrmechanismen, die einen beschleichen. Aber den Film „Leave the World Behind“, der ab 7. Dezember auf Netflix zu streamen ist, sollte man sich doch anschauen.
Weil er erfrischend anders ist als all die durchschnittlichen Katastrophenszenarien. Weil er den üblichen computergenerierten Effektesalat auf ein Minimum zurückschraubt und sich auf wenige Figuren beschränkt. Dass diese von veritablen Stars gespielt wird, allen voran Julia Roberts, die sich ja in letzter Zeit eher rar macht, ist ein zusätzlicher Anreiz. Aber den hätte es gar nicht gebraucht. Der Film würde auch so wirken.
„Leave the World Behind“: Ein Desasterfilm der anderen Art
Und er wirkt, weil man lange gar nicht weiß, welches Genre da eigentlich bedient wird. Es beginnt wie ein gewöhnliches Familiendrama. Eine ganz normale vierköpfige New Yorker Stadtneurotikerfamilie fährt fürs Wochenende in ein Ferienhaus in Long Island. Das mit dem titelgebenden Motto lockt: „Lass die Welt hinter dir.“
Die Frage, wer bei den Sandfords die Hosen anhat, die Werbefachfrau Amanda (Julia Roberts) oder der Collegeprofessor Clay (Ethan Hawke), ist auch gleich erklärt. Er schläft noch, während sie schon in aller Früh gebucht und weder ihren Mann noch die beiden Kinder (Charlie Evans und Farrah Mackenzie) gefragt hat.
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Auf der Autofahrt dahin hat jeder Kopfhörer auf und lauscht seinem eigenen Medium: Anzeichen für erste Risse in der heilen Welt, dass hier alle eher neben- als miteinander leben. Das Feriendomizil erweist sich dann als traumhaftes Luxusanwesen. Aber beim gemeinsamen Strandtag staunt man über einen riesigen Öltanker, der immer näher kommt und schließlich ohne abzubremsen mitten in den Strand rast und Panik auslöst. Das ist ein erster Schock. Der noch mit einem ausgefallenen Navigationssystem erklärt wird.
Zwei Fremde klingeln an der Tür. Sollte man sie reinlassen?
Abends dann, die Kinder sind bereits im Bett, klingeln zwei Fremde an der Tür. G.H. Scott (Mahershala Ali) gibt sich als Eigentümer des Hauses und seine Begleiterin Ruth (Myha’la) als seine Tochter aus. Sie stecken in schicker Abendgarderobe und wollen gerade von einem Konzert in New York kommen.
Weil es aber einen Totalblackout gab und die Stadt im Chaos liegt, wollen sie lieber in ihrem Wochenendhaus übernachten. Amanda, typisches Muttertier, misstraut der Situation, während ihr Mann die beiden sofort hereinbittet. Da denkt man schon, es wird eine dieser typischen Horrorfilme, wenn man Fremde ins Haus lässt.
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Aber dann häufen sich die Merkwürdigkeiten. Die Handys haben kein Netz, Internet und Fernsehen fallen auch aus. Dafür stehen Rehe im Garten und bald auch Flamingos im Pool. Eine Drohne wirft arabische Flugblätter ab. Dass Amanda bei der Ankunft schon über einen sogenannten Prepper staunte, der im Supermarkt einen Hamsterkauf wie für einen Bunker tätigte, nährt neuen Verdacht.
Dass der mit Kevin Bacon von einem weiteren Star gespielt wird, dessen Filmographie überdies viele verstörende Titel aufweist, mehrt das Unbehagen. Und als G.H. einen der wenigen Nachbarn in der abgelegenen Siedlung aufsucht, ist dessen Haus leer. Aber am Strand dahinter finden sich Leichen. Und Wrackteile eines abgestürtzen Flugzeugs.
Überraschung: Die Obamas fungieren als Executive Producer
Im klassischen Katastrophenfilm hätte man gesehen, wie dieses Flugzeug zerschellt und die nächste Panik auslöst. Dass hier aber alles etwas anders ist, dafür sorgen wohl schon der ehemalige US-Prädisent Barack Obama und seine Frau Michelle, die im Abspann als Executive Producer gelistet werden.
Regisseur Sam Esmail, bekannt als Showrunner der Erfolgsserie „Mr. Robot“, beschränkt sich ganz auf seine wenigen ahnungslosen Figuren, deren unmittelbares Erlebnisfeld und ihre zunehmende Unsicherheit. Wildfremde müssen da buchstäblich über Nacht zu einer Notgemeinschaft zusammenschweißen. Auch der Zuschauer weiß nie mehr als sie, bleibt immer ganz nah bei ihnen und ihren Ängsten. Ist das nur Technikversagen? Handelt es sich um einen gezielten Cyber-Angriff? Oder ist das ein Krieg? Und wen ja, mit welchem Angreifer?
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Der Film basiert auf dem gleichnamigen Roman von Rumaan Alan, der auch auf Deutsch unter dem Titel „Inmitten der Nacht“ erschien. Der doppeldeutige Originaltitel trifft es aber weit besser. Das abgeschiedene Luxushaus wird zur Rettungsinsel vor den Verheerungen da draußen. Es gibt kein Zurück.
Als die Stanfords doch einmal nach New York zurückwollen, scheitern sie schon nach wenigen Meilen. Weil da lauter nigelnagelneue Tesla-Autos führerlos ineinander rasen und die Fahrbahn versperren. Absurde Katastrophenbilder, wie man sie noch nie gesehen hat. Desaster auf dem neuesten Stand, sowas hält das eigentlich längst ausgelutschte Genre Katastrophenfilm ja immer wieder am Leben.
Spannender als jeder übliche Katastrophenfilm
Ismael aber stellt es zudem auf den Kopf. Oder in Schräglage. Weil er immer wieder die Kamera kippen lässt. Die Welt ist aus den Fugen. Es gibt keinen Halt. Und während ähnliche Filme einfach Effektespektakel sind, die bloß auf Schauwerte setzen und sich zu irgendeinem Ende, wie schal es auch immer ist, auflöst, bleibt dieser 144-Minüter bei den allerersten Momenten, die das drohende Unheil nur ankündigen.
Wobei aktuelle globale Konflikte klug mitverarbeitet werden und am Ende sogar das Trauma vom 11. September anklingt. Ein unangenehmer Film, der direkt in die Magengrube zielt und lange nachwirkt. „Leave the World Behind“ ist effektiver als jeder Effekte-Blockbuster.
„Leave the World Behing“: ab 7. Dezember auf Netflix.