Berlin. In Cannes triumphierte sie bereits. Nun geht sie sogar ins Rennen um einen Oscar. Ein Gespräch mit Schauspielerin Sandra Hüller.
Auf dem Filmfestival in Cannes war Sandra Hüller mit gleich zwei Filmen vertreten. Und beide gewannen die Hauptpreise: „Anatomie eines Falls“ von Justine Triet die Goldene Palme und „The Zone of Interest“ von Jonathan Glazer den Großen Preis der Jury. Ein großer Erfolg für die Schauspielerin, nachdem „Toni Erdmann“ vor sieben Jahren in Cannes als großer Favorit galt und dann doch leer ausging. Jetzt geht Sandra Hüller sogar ins Rennen um einen Oscar. Für „Anatomie eines Falls“ ist sie als „Beste Hauptdarstellerin“ nominiert. Wir haben die 45-Jährige im vergangenen Jahr im Dorint Hotel gesprochen. Etwas übermüdet, hatte sie doch am Abend vorher noch Theater in Bochum gespielt und kam erst morgens um vier Uhr in Berlin an.
Gratulation, Sie haben gerade den Douglas-Sirk-Preis erhalten. Sie haben schon den Eysold-Ring, den Silbernen Bären und zahlreiche andere Preise. Was bedeuten Ihnen solche Ehrungen?
Sandra Hüller: Das ist immer zwiegespalten. Einerseits ist es natürlich toll, solch eine Ehrung zu erhalten. Andererseits: Wenn ich sterbe, werde ich die sicher nicht mitnehmen. Wenn etwas ausgezeichnet wird, was mir sehr am Herzen liegt, macht mich das natürlich froh. Trotzdem denke ich nie während der Arbeit: Das wäre jetzt toll, dafür etwas zu bekommen! Der Preis ist dann für etwas anderes: dass ich es geschafft habe, mich verständlich zu machen.
Jetzt werden Sie sogar gehandelt fürs Oscar-Rennen, und gleich für zwei Kategorien, als Haupt- und Nebendarstellerin. Müssen Sie sich da auf einen Rummel wappnen?
Hüller: Das kommt so Stück für Stück. Aber es gibt da ja ein bestimmtes Prozedere, das einzuhalten ist. Das ist dann eine ganz praktische Sache. Aber ich lasse das auf mich zukommen. Noch ist ja gar nichts entschieden.
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Sie haben mit Justine Triet schon „Sybil“ gedreht. „Anatomie eines Falls“ hat sie direkt für Sie geschrieben. Kann man da gar nicht Nein sagen?
Hüller: Sie hat mich schon gefragt. Aber das war für mich schnell entschieden – weil das Drehbuch so fesselnd war, von Anfang an, so komplex und auf den Punkt, was moderne Beziehungen angeht. Und die Fragen, die sich damit stellen, was Frauenbilder und Zuschreibungen von der Gesellschaft angeht. Das fand ich wirklich sehr genau.
Spannend ist die Ambivalenz Ihrer Figur, die unter Mordverdacht steht und der man den Prozess macht. Man möchte ihr wie der Anwalt vertrauen, aber dann erfährt man immer wieder Dinge, die sie verschwiegen hat, die das Vertrauen erschüttern. War das gerade der Reiz an dieser Figur, dass man sie nicht so greifen kann?
Hüller: Ich fand das einen fast revolutionären Akt, sich auf diese Weise jeder Beurteilung zu entziehen. Weil diese Sandra ja jemand zu sein scheint, dem es nichts ausmacht, was die Leute über sie denken. Sie weiß, wer sie ist, sie kennt die Wahrheit ihrer Motive, sie weiß um die Konsequenzen ihrer Handlungen und trägt sie auch ungerührt. Die Einsicht, dass alles im Leben zusammengehört und eine Verbindung hat, und dass nur ich allein verantwortlich bin für mein Handeln – wenn man zu Ende denkt, was das bedeutet und wie viele Leben sich ändern müssten, wenn diese Einsicht mal ankäme, das fand ich sehr reizvoll. Und fühlte mich sehr inspiriert und gefordert.
Man hat das Gefühl, hier geht es nicht nur um ein Gerichtsverfahren. Hier wird regelrecht ein Geschlechterkampf ausgetragen: weil die Frau selbstständig, selbstbewusst, erfolgreicher, stärker ist – und dann auch noch bisexuell.
Hüller: Sowas soll es ja geben. Die Frage war nur, mit welcher Härte sie das durchsitzt, oder auch Weichheit. Wann sie sanft bleibt, wann sie aufbraust. Was ihre Grundenergie sein würde. Das Verrückte ist ja, dass sie doch in erster Linie um ihren Mann trauert, aber dass sie gar nicht zum Trauern kommt. Und dass darauf auch gar keine Rücksicht genommen wird im Prozess. Auf dieser Grundlinie habe ich diese Figur aufgebaut: dass ich ihr glaube.
Es gibt ganz viele Szenen, wo Sie im Gericht nur dem Prozess folgen und nichts zu sagen, nur zu schauen haben. Ist das schwieriger fürs Schauspiel, vieles nur über Mimik und Gestik auszudrücken, oder vielleicht sogar interessanter?
Hüller: Nein. Der Gedanke umfasst ja immer den ganzen Körper. So spiele ich zumindest. Mein Gesicht macht keine Sachen allein. Es ist ja nur der Ausdruck, das Fenster. In dem Fall war es aber ein besonderer Genuss, weil meine KollegInnen so gut waren und ich ihnen so gern zugeschaut habe. Ich habe da unheimlich viel sehen und lernen dürfen. Das war ein großes Vergnügen.
Gerade die Chemie mit Ihrem Filmsohn ist sehr schön. Kann man die entwickeln, oder muss die einfach da sein?
Hüller: Chemie ist Chemie. Da kann man nichts machen. Was von Anfang an klar war zwischen uns, war, dass es da viel Platz gibt. Dass ich keine Mutter spielen werde, die die ganze Zeit an ihm hängt und dauernd was von ihm will. Es könnte sein, dass ihm das gefallen hat. Justine hat uns, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in diesem respektvollen Abstand gelassen. Und Milo ist auch jemand, der keine Betreuung von mir als Kollegin brauchte. Wenn man mit Jugendlichen oder Kindern spielt, muss man ihnen manchmal vorspiegeln, was man gern von ihnen hätte. Gerade Kinder, die so viel am Handy mit Medien beschäftigt sind, sind so sehr außen, dass sie gar nicht wissen, wie sie sich fühlen. Das war bei Milo, der bei den Dreharbeiten zwölf war, ganz anders. Er ist sehr bei sich und konnte ganz genau formulieren, was in ihm vorgeht. Und er hat alles von allein gemacht. Er war einfach ein echter Partner.
Es gibt diese amerikanischen Gerichtsfilme, in denen immer alles ganz eindeutig ist und in Rückblenden genau aufgefächert wird, so dass der Zuschauer gar nicht mitdenken muss. Das ist so erfrischend anders bei diesem Film: dass man selbst ständig konzentriert dabei sein muss, weil man niemandem trauen kann und sein eigenes Bild selbst zusammenpuzzeln will.
Hüller: Das ist ja auch die Welt, in der wir leben. Wir wissen ja heute nicht einmal mehr mit Sicherheit, ob stimmt, was wir in den Nachrichten hören. Wenn eine Seite schon etwas veröffentlicht, bevor es gegengecheckt und verifiziert ist. Mehr denn je sind wir selbst gefragt, zu hinterfragen, ob das alles stimmen kann. Deshalb ist dieser Film so modern. Das war auch das erklärte Ziel von Justine und Arthur Harari. Sie haben alle Courtroomdramen gesehen, die es gibt. Und gerade die amerikanischen Filme entsprechen halt so gar nicht der Realität. Allein die Beleuchtung, wenn die so gottgleich von oben inszeniert werden, als ob sie alles wissen. Das stimmt natürlich nicht. Es gibt Regeln und Gesetze. Aber ob die mit der Wahrheit zu tun haben, diese Frage stellt der Film ja ganz konkret.
Taugen Gerichtsfilme als gesellschaftlicher Spiegel, weil sie zeigen, wie die Missstände unserer Zeit Einzug ins Private nehmen?
Hüller: Ich finde, Justine ist es wirklich gelungen, uns das zu zeigen. Sie hat da so ein Trojanisches Pferd ins Kino gezogen. Das sieht aus wie ein Gerichtsfilm, aber im Grunde ist es ein Gesellschaftsdrama, ist es auch ein Krimi. Und es gibt, auch wenn viele glauben, dass das mit Drama nicht zu vereinen sei, ganz viel feinen Humor. Es ist ganz vieles im Gewand eines Gerichtsfilms.
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Justine Triet hatte am Ende des Drehs das Gefühl, Sie hätten ihr einen Teil von sich persönlich gegeben. Ist das womöglich ein Geheimnis Ihrer Arbeit?
Hüller: Ich glaube sogar, das geht gar nicht anders. Ich muss mich immer verbinden und hingeben. Sonst habe ich daran auch keine Freude.
Die Figur heißt ebenfalls Sandra, man sieht auch Fotos von Ihnen aus früheren Jahren. Ist das seltsam, wenn sich da Privates und Berufliches vermengt? Oder gehört das mit dazu?
Hüller: Das war schon eine Frage, ob ich das mache. Aber ich habe mich darauf eingelassen, weil ich Justine vertraue. Deshalb habe ich auch alte Bilder von mir zur Verfügung gestellt. Sie hat mir allerdings nicht gesagt, wie prominent die darin vorkommen. Ich dachte, das sei Set-Deko, dass die Fotos eben in der Wohnung stehen. Dass wir sie so groß sehen, war eine Entscheidung von ihr. Das war so gar nicht besprochen. Aber das ist jetzt halt so. Und das kann ich auch akzeptieren.
Sie haben den Film gleich in zwei fremden Sprachen gedreht. Ist das doppelt schwer oder ist das schon ein Korsett für die Rolle?
Hüller: Also: In eine Rolle kommen, das kann ich gar nicht. So denke, so spiele ich nicht. Wenn Justine von Anfang an mit dem Gedanken an mich schreibt, muss sie damit umgehen, dass es dieses Sprachthema gibt. Sie wollte, dass es diese Schwierigkeiten in der Kommunikation, des Sich-Erklärens gibt. Sie wollte diese Frage aufwerfen, wem man mehr glaubt, einem, der diese Sprache spricht oder nicht. Und wie viel man aufwenden muss, damit einem dennoch geglaubt wird, gerade als erfolgreiche Frau. Das war dann der erste Spielanlass. Und das lief nicht einfach so mit, das hatte immer eine Funktion. Sowohl in der Ehe und dem Ehestreit als auch vor Gericht: wann passt sie sich dem System an und wann wechselt sie die Sprache? Das wäre sicher anders gewesen, wenn ich hätte behaupten müssen, ich sei Französin oder Engländerin.
Wie war es, nicht nur diesen Film, sondern gleich noch einen zweiten in Cannes zu haben? Die dann auch noch die beiden Hauptpreise eingeheimst haben?
Hüller: Die Auszeichnung war schon, doppelt im Wettbewerb vertreten zu sein. Das hat auch niemand kommen sehen, aber die Filme sind fast zeitgleich fertig geworden. Aber sowas kann man nicht planen. Von der französischen Produktion wusste ich, dass sie für Cannes eingereicht wurde. Aber von „The Zone Interest“, dem Film von Jonathan Glazer, habe ich das erst kurz vorher erfahren. Dass beide dann eingeladen wurden und beide in den Wettbewerb, war großes Glück.
War das auch Balsam, hat Sie das mit Cannes versöhnt? Nach der Erfahrung, dass „Toni Erdmann“ damals von allen als Favorit gehandelt wurde und dann leer ausging?
Hüller: So habe ich nie empfunden. Deshalb ist das auch kein Balsam. Es hat mich damals sehr beschäftigt, weil der Rummel um uns so groß gewesen war. Aber die Filme sind gar nicht miteinander zu vergleichen. Und es sind ja immer andere Jurys. Das hat also überhaupt nichts miteinander zu tun. Das habe ich auch nie in Relation gesetzt. Das Einzige, was mir aufgefallen ist: dass es mir leichter gefallen ist, dort zu sein. Weil ich das Gefühl hatte, ich kenne mich schon etwas besser aus.
„The Zone of Interest“ kommt erst Ende Februar ins Kino. Ist das angenehmer, wenn die Filmstarts etwas entzerrter sind, nicht so geballt wie in Cannes?
Hüller: Das ist ja nur hier in Deutschland so. Als wir Promotion in den USA machten, war das ganz anders. Ich habe mich jetzt aber auch ein bisschen daran gewöhnt, das zeitgleich zu machen.
Würde es Sie reizen, mehr in internationalen Produktionen zu spielen? Oder ließe sich das mit Ihrer Theaterarbeit gar nicht vereinen?
Hüller: Darüber denke ich eigentlich gar nicht nach. Bis jetzt war es immer so, dass die Projekte zu mir kamen und ich sagen konnte, ob ich dafür Platz und Kapazitäten habe. Ich habe immer Lust auf gute Stoffe und interessante Erfahrungen. Da ist es mir eigentlich egal, woher sie kommen. Und ich bin ja nicht fest im Ensemble, sondern freie Mitarbeiterin. Ich kann entscheiden, wann ich im Theater bin.
Und letzte Frage: Haben Sie eigentlich noch Lampenfieber?
Hüller: Ja, sehr. Das hasse ich auch am meisten an dem Beruf. Es ist besser geworden in den letzten Jahren. Mein geschätzter Kollege Stefan Hunstein hat mir gesagt, er hatte das auch. Und es ging nur weg, weil er alle Rituale weggelassen hat. Das hat die Angst nur vergrößert. Sagen wir: Ich hab‘s zurzeit ganz gut im Griff.