Bochum. Gaza-Krieg vergiftet auch in Deutschland das Klima. Offener Judenhass, neue Islamfeindlichkeit und Staatsräson drohen die Politik zu überfordern.
Hans Mommsen würde dunkelrot bis lila anlaufen, wenn er noch könnte. Das tat der 2015 verstorbene Bochumer Historiker schon, wenn ein Student eine unzulängliche Antwort gab. Oder wenn Journalisten ihn falsch verstanden. Müsste Mommsen heute mit ansehen, dass Juden in Deutschland vielleicht nicht sich selbst, aber ihr Judentum wieder aus Angst verstecken, würde auch für ihn eine Welt zusammenbrechen.
Mommsen war einer der bedeutendsten Holocaustforscher Deutschlands. Wie kein Zweiter verlangte er den Deutschen einen ehrlicheren Blick auf den Holocaust ab, er ließ gegen den Widerstand der eigenen Zunft nicht zu, dass dieses Menschheitsverbrechen einfach bei der NS-Elite abgeladen wurde und der Rest sich selbst freisprach. Die Mitverantwortung der Hunderttausenden Helfershelfer, auch einfacher Wehrmachtsoldaten, sowie der wegschauenden Mehrheit war sein Thema, und hinter all dem der Auftrag an die jungen Generationen, niemals zu vergessen. Das verstand er nicht nur als Pflicht aus der Historie, sondern auch als Pflicht für die deutsche Gesellschaft zu verhindern, dass Juden in Deutschland jemals wieder in Angst leben müssten. Was würde Mommsen sagen in diesen Tagen?
Israelis vergleichen 7. Oktober 2023 mit Pogromen in Deutschland
In Israel sprechen sie aus, was deutschen Beobachtern nicht zusteht, weil es als Verharmlosung der deutschen Massenmorde gedeutet werden könnte: Sie vergleichen die Jagdszenen und bestialischen Morde vom 7. Oktober 2023 im Grenzgebiet zu Gaza mit den Pogromen der Nazis. Juden in Deutschland, die mit Verwandten und Bekannten in Israel telefonieren, spüren, dass dies das einschneidendste Ereignis seit dem Holocaust war. Weil sie sich jetzt nirgends mehr sicher fühlen, nicht einmal in ihrer eigens zu diesem Zweck gebauten Heimat. Deshalb sehen viele im 7. Oktober nicht weniger als eine Zeitenwende für die Juden auf der Welt.
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Hie und da wird sogar wieder der christliche Mythos von Ahasver zitiert, dem „Ewigen Juden“, der Jesus auf seinem Weg zur Kreuzigung die Rast verwehrte und dafür von diesem dazu verflucht wurde, auf ewig rastlos durch die Welt zu wandern. Weil er nirgends jemals willkommen sein wird. Was sich Juden hassende Christen ausdachten, wollen heute Islamisten wahr werden lassen.
Was am 7. Oktober geschehen sei, erschüttere „das jüdische Selbstverständnis grundsätzlicher und nachhaltiger als alles, was uns seit 1945 widerfahren ist. Schlagartig macht sich wieder das diasporische Gefühl der Schutzlosigkeit breit. Man muss wieder ums Überleben kämpfen. Das scheint nun überall zu gelten“, schreibt der Spiegel-Kolumnist Richard Schneider. Und: „Die antisemitischen Exzesse in Europa und anderswo, die Empathielosigkeit vieler, das ,Ja, aber...’, das bei politischen Diskussionen zu hören ist – es macht jeden jüdischen Menschen schlagartig einsam.“
Hamas-Aufruf zur Gewalt gegen Juden – auch in Deutschland
Auch in Deutschland. Völlig angstfrei lebte es sich hierzulande für Jüdinnen und Juden ohnehin nie, dafür sorgte schon die radikale Rechte, die aktuell so stark ist wie nie und mit der AfD zum ersten Mal im Nachkriegsdeutschland eine Partei als Aushängeschild in fast allen Parlamenten hat. Ins Antisemitische umschlagende Pro-Palästina-Bewegungen am linken Rand kamen noch hinzu. Doch nach den barbarischen Massakern palästinensischer Hamas-Terroristen an israelischen Zivilisten und den verheerenden Gegenschlägen Israels ist die Bedrohungslage für jüdische Menschen auch in Deutschland eine völlig andere geworden. Sie sehen sich von muslimischen Pro-Palästina-Aktivisten bedroht, von offenen Aufrufen der Hamas-Führung zur Gewalt gegen Juden auf der ganzen Welt.
Was im Nachrichtenrauschen mit all seinen Ungeheuerlichkeiten aus Gaza und Israel fast untergeht, ist eine tiefe Zäsur für die Juden in Deutschland. Ob es für sie wie für die Juden in Israel auch eine Zeitenwende wird, entscheidet sich in den kommenden Wochen und Monaten. Denn bei dem Schmerz über die Ereignisse im Heiligen Land bleibt es nicht. Jüdinnen und Juden in Deutschland lassen ihre Kippas in der Schublade, trauen sich nicht mehr, ihre jüdischen Wurzeln preiszugeben, reden nicht offen mit Journalisten – aus blanker Angst um Leib und Leben, sollten die Falschen erfahren, welchen Glaubens sie sind.
Dass das nicht sein dürfe, dass Juden in Deutschland ohne Angst leben können müssten, sagen Politiker aus Union, SPD, Grünen und FDP bei jeder Gelegenheit. AfD-Chef Tino Chrupalla schert in der Bewertung des Massakers zumindest in der Wortwahl aus, er verurteilte den Hamas-Angriff zwar, nannte die ermordeten israelischen Zivilisten auf X (früher Twitter) allerdings „Kriegstote“ – als hätten die Babys vor ihrer Enthauptung ein Maschinengewehr auf Palästinenser gerichtet. Auch in seiner Partei war dieser Tweet sehr umstritten.
Das gesellschaftliche Klima in Deutschland ist vergiftet
Weder das eine noch das andere hilft den jüdischen Menschen im Alltag. Viele trauen sich nicht mehr, ihren Glauben in Deutschland offen zu leben. Ganz im Gegenteil zu jenen Muslimen, die auf angemeldeten oder unangemeldeten Demos zur Vernichtung Israels aufrufen, oft im Namen des Islam. Man darf den Politikern abnehmen, dass auch sie das unerträglich finden und nicht dulden wollen. Die Frage ist aber, wie sie der noch diffusen, aber von den Jüdinnen und Juden als sehr real empfundenen Bedrohungslage begegnen wollen.
Denn das gesellschaftliche Klima in Deutschland ist so vergiftet wie seit sehr langer Zeit nicht mehr. Mit den Horrorbildern aus Israel und mehr noch den Bildern anschließend feiernder Menschen in Deutschland, die damit indirekt die Ermordung von Kindern gutheißen, droht auch ein ganz neuer Riss zwischen der christlich geprägten deutschen Bevölkerung und der muslimischen. Selbst Menschen, denen bisher Verallgemeinerungen fremd waren, denen es wichtig war, Vorurteile zu bekämpfen statt sie zu pflegen, halten inne. Sagen, wenn sie Bilder feiernder Pro-Palästina-Demonstranten sehen, die israelische Flaggen verbrennen, dass sie solche Menschen hier in Deutschland nicht haben wollen.
Judenhass, aber auch Islamfeindlichkeit und Alltagsrassismus drohen zuzunehmen
Auch aus der Sorge, die AfD könne vom Gaza-Konflikt profitieren und noch stärker werden, reagiert die Bundesregierung darauf, verspricht schnellere und mehr Abschiebungen. Sollte sich bewahrheiten, was aus den Ländern zu hören ist, dass das so gar nicht umsetzbar sei, folgt die Enttäuschung darüber und ein weiterer Vertrauensverlust in die Ampel-Koalition auf dem Fuße. Es ist eine angespannte Lage, die an mehreren Stellen das Potenzial hat, zu eskalieren. Wenn nicht in Gewalt, dann in gesellschaftliche Spannungen, in gegenseitiges Misstrauen, in noch mehr Alltagsrassismus, Islamfeindlichkeit und Judenhass.
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Denn wie immer in solchen Situation geraten Selbstverständlichkeiten in den Hintergrund: So wie nicht alle Palästinenser der Hamas folgen, verbrennt die übergroße Mehrheit der Muslime in Deutschland keine Israel-Flaggen und sind weder Muslime noch Israelis mehrheitlich kriegslüsterne Menschen. In den Hintergrund tritt auch: Deutschland ist ohne seine fünfeinhalb Millionen Muslime faktisch nicht funktionstüchtig. Kein Krankenhaus kommt mehr ohne muslimisches Personal aus, kein großer Einzelhändler, kein Paketdienst. Deutschland wird in den kommenden Jahrzehnten viel mehr statt weniger muslimischen Menschen eine Heimat sein müssen, wenn die hier Lebenden ihren Lebensstandard halten wollen.
Das Dilemma der deutschen Politik
Das bringt die Politik aktuell in ein Dilemma: Sie muss allein aus der Staatsräson, an Israels Seite zu stehen, klare Kante zeigen gegen jene, die den Gaza-Konflikt nach Deutschland tragen wollen. Das ist für den inneren Frieden in der Bundesrepublik existenziell. Gleichzeitig hat diese Staatsräson in den vergangenen Jahrzehnten einen kritischeren Blick auf Israels Palästina-Politik verhindert. Das ging und geht aus Sicht vieler Muslime zu Lasten der Glaubwürdigkeit Deutschlands in dieser Frage. In einer Zeit, da Deutschland sich weder Kritik an Israels Regierung noch ein muslimfeindliches Klima hierzulande erlauben kann, ist guter Rat teuer.
„Verantwortung für Israel kann nur bedeuten, alle realisierbaren Schritte zu vollziehen, um einer die Existenz Israels bedrohenden militärischen Aktion, so vonseiten des Iran, entgegenzutreten. Die Bundesrepublik sollte jedoch nicht Maßnahmen unterstützen, die geeignet sind, die bestehende, ohnehin prekäre Autonomie der Palästinenser auszuhöhlen“, riet Historiker Hans Mommsen 2012 in einem Zeit-Interview. Es ist vielleicht sein einziger Satz, der einen nicht schlauer macht. An einem Spagat aus bedingungsloser Unterstützung Israels und humanitärer Unterstützung der Palästinenser versucht sich Deutschland seit Jahrzehnten – ohne Erfolg.
Was tun, wenn niemand Frieden will?
Wo ist der Ausweg, wenn keiner der Machthabenden ein Interesse am Frieden in der Region hat? Weder Irans Mullahs noch die Hamas noch Israels Regierungschef Netanjahu. Vor allem die Hamas und der Scharfmacher Netanjahu ziehen sie aus diesem Dauerkonflikt vielmehr ihre Existenzberechtigung, heizen ihn von Neuem an, wenn es ihnen zu ruhig geworden ist. „Ich habe mich selten so ratlos gefühlt“, schrieb mein Kollege Jan Jessen nach seiner jüngsten Reise nach Israel und Gaza, auf der er mit Menschen auf beiden Seiten des Grenzzauns gesprochen hat. Man möchte widersprechen, zögert – und kann es nicht.
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Deutschland kann den Gaza-Konflikt nicht lösen. Aber Deutschland trägt die Verantwortung für die hier lebenden Menschen. Die Jüdinnen und Juden in Deutschland zu schützen, ist aktuell die oberste Pflicht unseres Staates. Diese Selbstverständlichkeit wird durch die deutsche Geschichte noch bedeutsamer. Zumal heute in Deutschland Menschen hohe politische Ämter bekleiden, die mit dem angeblichen deutschen „Schuldkult“ agitieren und ungestraft eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern, wie Thüringens AfD-Chef Björn Höcke. Keine Verdrängung und schon gar keine Verdrehung der Vergangenheit zuzulassen, ist in Deutschland wichtiger denn je. Etwas in der Art würde Mommsen wohl sagen.
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