Herbertshausen. Leidenschaft für Dreadlocks entdeckt: Marie Wagner erfüllt sich den Traum von mehr Freiheit im Berufsleben. Warum es Dreadlocks geworden sind.

Marie Wagner hat sich einen Traum erfüllt: Mit der DreadWerkstatt Wittgenstein. Nebenberuflich häkelt sie Dreadlocks für ihre Kunden. Im vergangenen Jahr hat sie den Schritt gewagt: Erstmal um einfach nur zusehen, „ob das überhaupt ankommt in unserer dörflichen Gegend. Ich habe aber gleichzeitig auch gedacht: Hier ist ja sonst niemand, ich sollte das probieren“, sagt die 46-Jährige. „Ich war mutig genug und habe mich erstmal sichtbar gemacht. Es entwickelt sich stetig weiter, deswegen habe ich nun zum Oktober dieses Jahres ein Gewerbe angemeldet.“

Marie Wagner DreadWerkstatt Wittgenstein
Die Dreadlocks können auch eingeflochten werden. © WP | Annelie Manche

Dabei ist ihr wichtig, dass sie „entschleunigt und achtsam“ arbeiten kann. Denn die Idee, sich mit etwas ganz anderem als ihrem erlernten Beruf selbstständig zu machen, kam mit einem Burnout. „Ich habe einen beruflichen Ausweg aus der Belastungssituation gesucht, die mit meinem Vollzeitjob in der stationären Jugendhilfe einherging“, sagt Wagner. „Ich suchte mir unbewusst einen beruflichen Ausweg. Ich entdeckte in meiner bisher schwierigsten Zeit meine Leidenschaft für Dreadlocks.“ Das Thema Haar ist ihr dabei nicht fremd. Ihr erster gelernter Beruf ist Friseur, erst danach hat Marie Wagner die Ausbildung zur Erzieherin gemacht.

DreadWerkstatt Wittgenstein
Bunte Fäden oder Holzperlen können in die Dreadlocks eingearbeitet werden. © privat | Marie Wagner

Dreadlocks als ausgleichende Tätigkeit zum stressigen Beruf

„Ich habe nach einer Beschäftigung gesucht, die nicht derart drucklastig ist und bei der ich selbst den Rahmen stecke, um meine Stunden in der Sozialen Arbeit auf ein Minimum reduzieren zu können. Eine Beschäftigung, bei der mein Gehirn ruhig ist und mich die Tätigkeit an sich und das Endergebnis freudig stimmen.“ Das hat sie nun geschafft. „Ich arbeite jetzt in der Jugendhilfe der Diakonie in der sozialpädagogischen Gruppenarbeit.“ 15 Stunden pro Woche ist sie dort im Einsatz. So bleibt genug Zeit für ihre Selbstständigkeit.

DreadWerkstatt Wittgenstein
Es kann 18 bis 24 Stunden dauern, bis das komplette Haupthaar zu Dreadlocks verarbeitet ist. © privat | Marie Wagner

„Die Erstellung der Dreadlocks ist eine aufwendige Sache und eine Wissenschaft für sich“, sagt Wagner. Je nach Beschaffenheit der Haare, der Dichte und Länge dauere es 18 bis 24 Stunden, um das komplette Haupthaar in Dreadlocks zu verwandeln. Ihre Ausbildung machte die 46-Jährige bei der LocsAcademy, einem Onlinekurs der DreadFactory – „einem fabrikähnlichen Zusammenschluss vieler Dreader in Deutschland“, so Wagner. Die Ausbildung dauert zwölf Wochen, mit einer abschließenden Prüfung. Eine Ausbildung als Friseur ist aber nicht nötig, um als Dreadstylist oder Dreadartist zu arbeiten. „Man muss einiges über das Haar und die Kopfhaut wissen, aber das ist nur ein kleiner Teil der Ausbildung. Mit der Erstellung der Locks wird der Filzprozess angestoßen. Bis die Längen sich fertig entwickelt haben, vergehen eineinhalb bis zwei Jahre“, erklärt Wagner. In dieser Zeit müssen die Locks regelmäßig gepflegt werden: „Fusselhaare müssen wieder eingehäkelt und die Dreads wieder in Form gebracht werden.“

Marie Wagner DreadWerkstatt Wittgenstein
Mit Häkelnadeln in verschiedenen Größen werden die Haare in Dreadlocks verwandelt. © WP | Annelie Manche

In einer Ecke in ihrem Wohnzimmer in Herbertshausen hat Marie Wagner ihren Arbeitsbereich eingerichtet, mit einer Sitzgelegenheit für die Kunden. Auf einem Tisch liegen ihre Arbeitsgeräte: verschiedenen Häkelnadeln, mit denen die Haare zu Dreadlocks verarbeitet werden.

Dreadlocks reichen in der Kultur und Geschichte weit zurück

Oft wird im Zusammenhang mit Dreadlocks auch über kulturelle Aneignung gesprochen. „Jeder Dreadhead hat seine eigenen Gründe, diese Frisur zu tragen und diese sind sehr unterschiedlich und ja, das kann auch für den einen oder anderen eine kulturelle Bedeutung haben.“ Marie Wagner jedoch findet eher, das man hinterfragen sollte: „Wo kulturelle Aneignung anfängt und wo sie aufhört – und überhaupt: Wer setzt das denn fest? Betreiben wir dann nicht auch kulturelle Aneignung, wenn wir zum Italiener, Türken, Asiaten oder Afrikaner zum Essen gehen? Oder wenn die Herren der Nation sich ihre Frisuren und Bärte beim türkischen Friseur in Form bringen lassen? Ich sehe Dreads als eine der ältesten und zudem sehr ursprünglichen Frisuren an und ich frage mich, ob man hierbei anstatt von kultureller Aneignung nicht von kultureller Wertschätzung sprechen sollte“, so Wagner.

Was ist kulturelle Aneignung?

Wenn sich Mitglieder einer Mehrheitsgruppe an der Kultur einer Minderheit bedienen, um sich zu bereichern, spricht man von kultureller Aneignung. Seit der Kolonialisierung bereichern sich weiße Menschen am Eigentum von dunkelhäutigen oder indigenen Menschen – egal ob es um Bodenschätze, Musik oder Kleidung geht. Das Problem: Es findet kein kultureller Austausch auf Augenhöhe statt, sondern etwas wird ohne Erlaubnis genommen. Oft wird dann auch noch respektlos damit umgegangen oder sich darüber lustig gemacht.

Auch bei Dreadlocks wird die kulturelle Aneignung oft diskutiert. Bekannt sie die Dreadlocks heute vor allem durch die Rastafari-Bewegung. Die afroamerikanischen Dreadlocks wurden zu einer politischen Botschaft, mit der gegen die Unterdrückung protestiert wurde. Weiße Menschen, die Dreadlocks tragen, haben diese Unterdrückung aber nicht selbst erlebt, sondern ihnen gefällt die Ästhetik. 2022 wurde die Sängerin Ronja Maltzahn kurzfristig bei einer Veranstaltung von Fridays for Future in Hannover ausgeladen, weil sie als weiße Frau Dreadlocks trägt. (Quelle: ARD alpha, Sendung Respekt) 

Dreadlocks sind in der Geschichte verschiedener Kulturen zu finden: „Bereits die Ägypter trugen Dreads. Sie sind auf diversen Artefakten zu sehen und Archäologen fanden gefilzte und geflochtene Haare in ägyptischen Mumiengräbern. In Kambodscha gelten Dreadlocks als heilig – im Hinduismus in Indien liegt hierfür offenbar der Ursprung. Für Hindus sind Dreadlocks ein Zeichen für eine Verbindung mit der spirituellen Welt“, erklärt die Dreadstylistin. Aber auch die Wikinger, Kelten und germanische Stämme sollen die Filzlocken getragen haben.

Marie Wagner DreadWerkstatt Wittgenstein
In ihrem Wohnzimmer kreiert Marie Wagner verschiedene Dreadlock-Frisuren. © privat | Marie Wagner

Dennoch haben die sogenannten Dreadheads auch heute noch mit Vorurteilen zu kämpfen. Zum Beispiel, dass sie Drogen konsumieren oder ungepflegt seien. „Grundsätzlich ist zu sagen, dass Dreadheads nicht besser oder schlechter sind als Menschen, die keine Dreads tragen. Jeder Mensch ist von vielen Faktoren geprägt und trägt diverse Glaubenssätze in sich. Jeder, wie er mag und am besten klarkommt in der Welt.“

Weitere Informationen zur DreadWerkstatt Wittgenstein gibt es auf Facebook, Instagram oder unter www.dreadwerkstattwittgenstein.de.

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