Siegen. Supermärkte können stressen: Licht, Musik, Durchsagen, Trubel. Für Autisten kaum zu ertragen. „Stille Stunde“ heißt: Ruhig und entspannt einkaufen - für alle.

Diesen Stress kennt jeder. Anstrengender Tag, anstrengende Woche, wenig Zeit, Termindruck; man ist gereizt, genervt, dünnhäutig. Einkaufen macht‘s oft nur noch schlimmer; im Supermarkt plärrt es gefühlt aus jeder Ecke, überall blinkt etwas, Leute stehen im Weg, man muss warten, findet die gesuchten Waren nicht. Wie schön wäre mitunter etwas mehr Ruhe. Ganz besonders für Menschen, die psychisch vorbelastet sind. Die mit Autismus leben, hochsensibel sind, an Nervenkrankheiten oder Aufmerksamkeitsdefizitstörungen leiden. Ein ganz normaler Einkauf kann sie an den Rand des mentalen Zusammenbruchs führen. Zeit für eine „Stille Stunde“ beim Einkaufen.

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Die Idee für die „Quiet Hour“ kommt aus Neuseeland, von einem Supermarktangestellten, der ein autistisches Kind hat - Einkaufen war extrem schwierig. Bei vielen Autismus-Störungen kann das Gehirn Reize nicht so filtern, wie es bei gesunden Menschen der Fall ist. Klingelt im Nachbarraum das Telefon, fährt draußen ein Bus vorbei, nehmen die meisten das gar nicht wahr; das Gehirn blendet es aus, legt den Fokus auf „Wichtiges“. Auf die Betroffenen hingegen stürzt das alles gleichzeitig ein, eine völlige Reizüberflutung, die ganzen Sinneseindrücke können irgendwann nicht mehr verarbeitet werden.

„Stille Stunde“ in Siegen: Nicht nur psychisch kranke Menschen profitieren - sondern alle

In Supermärkten mit ihren Durchsagen, dem oft grellem Licht kann das zur völligen psychischen Überforderung führen, sagt Katharina Stocks-Katz, Psychiatriekoordinatorin beim Kreis und Mitglied der Inititiative „Stille Stunde Siegen-Wittgenstein“ (siehe Infobox): Das Gehirn „läuft über“, gewissermaßen. Für Betroffene oft kaum auszuhalten. In der Konsequenz gehen viele ganz früh morgens oder ganz spät abends einkaufen, um der Reizüberflutung zu entgehen, wenn überhaupt. Vielfach hören sie über Kopfhörer ihre eigene, beruhigende Musik - oder meiden solche Situationen von vornherein. Teilhabe sieht anders aus.

„Viele Menschen wünschen sich noch deutlich mehr Stille und weniger Reize beim Einkaufen und darüber hinaus.“

Jan-Frederik Fröhlich,
EUTB

Für sie - und nicht nur für sie - ist die Stille Stunde gedacht. Supermärkte, Geschäfte, auch Dienstleister wie Friseursalons, können mitmachen: Einmal pro Woche für eine bestimmte Zeit Reize reduzieren. Das Licht dimmen, keine Durchsagen und keine Musik, keine lauten Gespräche und Telefonate, Bildschirme abschalten. Ruhe reinbringen, Entspannung. Idealerweise werden Waren nicht in dieser Zeit eingeräumt, Kassengeräusche abgeschaltet. In England und der Schweiz beispielsweise gibt es das ziemlich flächendeckend. „Die Geschäfte müssen dafür nichts tun“, betont Katharina Stocks-Katz - nichts anschaffen, nichts wegwerfen, kein Konzept entwickeln, nur ein paar Sachen für gewisse Zeit abstellen. Die Initative unterstützt alle, die mitmachen möchten, bei der Umsetzung. Ein Friseur kann schlecht das Licht dimmen - aber es gibt andere Bausteine. „Alle können entscheiden, was sie einbringen und umsetzen wollen.“ Gerade Friseurbesuche sind für Autisten sehr anstrengend, sagt die Expertin: Laute Geräusche etwa beim Föhnen, Platzwechsel fürs Haarewaschen, die körperliche Nähe zu anderen Menschen.

Infos und Kontakt

Mitglieder der Initiative sind die EUTB Siegen-Wittgenstein-Olpe (Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung), Alzheimer-Gesellschaft Siegen-Wittgenstein, von beiden ging der Anstoß für die Stille Stunde in Siegen aus; außerdem die Selbsthilfekontaktstelle der Diakonie in Südwestfalen, die Beauftragten für Menschen mit Behinderung von Stadt Siegen und Kreis Siegen-Wittgenstein.

Der Auftakt der Stillen Stunde in Siegen ist Mittwoch, 27. November, von 12 bis 14 Uhr in der „Schlüsselstelle“, Jungs Boulderhalle und Café, Bismarckstraße 81 sowie von 14 bis 15 Uhr in Denns Biomarkt, Weidenauer Straße 274.

Unternehmen, die sich an der Stillen Stunde beteiligen möchten, können sich an die Initiative wenden unter info@eutb-swo.de, 0271/48536900, Hauptmarkt 18 in 57076 Siegen-Weidenau (Eingang Fußgängerzone).

Wenn man Inklusion ernst nimmt, alle Menschen an der Gesellschaft teilhaben sollen, „dann müssen wir auch an diese Gruppe denken“, sagt sie. Es sind nicht nur ein paar Handvoll betroffene Personen, für die ein vermeintlich gewöhnlicher Supermarkt-Einkauf der pure Stress ist. Das Schöne an dieser Idee: Auch alle anderen profitieren. Denn alle sind oft gestresst. Das Smartphone ist allgegenwärtig, man ist immer verfügbar, permanente Ablenkung ist Teil des Alltags. Sich fokussiert über längere Zeit nur mit einer Sache beschäftigen: Das ist selten geworden, sagt Katharina Stocks-Katz. Wer von der Idee eines „ruhigen Einkaufs“ hört, sei sofort sehr angetan, hat sie beobachtet. Das berichtet auch Jan-Frederik Fröhlich vom EUTB; er initiierte zusammen mit Stefanie Kremer von der Alzheimer-Gesellschaft die Stille Stunde in Siegen: Sie nimmt Rücksicht auf psychisch belastete Menschen und kann ein echter Mehrwert für alle sein. „Viele Menschen wünschen sich noch deutlich mehr Stille und weniger Reize beim Einkaufen und darüber hinaus“, so Fröhlich.

Stille Stunde in Siegen: Zwei Geschäfte machen den Anfang - alle können mitmachen

Und auch die Geschäfte profitieren, das zeigen die Länder und Städte, wo es das bereits gibt. „Man hat mehr Lust zu schlendern und zu gucken“, hat Katharina Stocks-Katz beobachtet. Durch die entschleunigte Einkaufssituation seien auch die Angestellten entspannter. Für den Anfang sind zwei Siegener Läden bei der Stillen Stunde dabei: Denns Biomarkt und die „Schlüsselstelle“, Jungs Boulderhalle und Café. Das Netzwerk hofft, dass der Auftakt etwas ins Rollen bringt, dass mehr Geschäfte mitmachen, überall in der Region kleine Inseln der Ruhe entstehen. „Geschäftsleute möchten ihren Kunden etwas bieten, außer den reinen Konsum“, sagt Katharina Stocks-Katz. „Ein möglichst angenehmes Einkaufserlebnis gehört auch dazu.“

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