Siegen. Schon als Kind wusste Moritz Schumann aus Siegen, dass er irgendwie anders ist als die anderen. Warum, wusste er lange nicht. Nun will er anderen helfen.

Schon in der Grundschule weiß Moritz Schumann, dass er irgendwie anders ist als die anderen. Was für viele im Alltag selbstverständlich ist, stellt ihn vor große Herausforderungen. Oft ist er überfordert, wenn er mit Leuten spricht; sie sind überfordert, mit ihm zu sprechen. Versucht er, sich Gruppen anzuschließen, gibt es eine Irritation nach der anderen. „Ich war immer der Verwirrte“, sagt der 24-Jährige selbst. Heute weiß er: Er ist nicht „verwirrt“. Er lebt mit Autismus. Eine Störung, die für ihn immer noch zu wenig Beachtung bekommt. Der Siegener ergreift die Initiative und gründet eine Selbsthilfegruppe.

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Kommt ein Künstler von einer großen Bühne, auf die zehntausende von Augen gerichtet sind, in das kleine, einsame Hotelzimmer, braucht er einige Zeit, um wieder herunterzukommen. Bei Moritz Schumann passiert das gleiche – allerdings in gewöhnlichen Alltagssituationen. Das geht ihm schon im Kindesalter so. „Ich war von Sekunde eins an immer in dem Modus, gleich alles richtig machen zu müssen“, erinnert er sich. Er fühlt sich unsicher, den Kontakt zu Menschen zu halten, fällt ihm schwer. Er schottet sich ab, ist meist mit Kopfhörern und Kapuze zu sehen. Heute kann er sich an viele emotionale Momente gut erinnern, das ist etwas, was er besser kann als andere Menschen. Gründe, warum alles nicht so funktioniert wie bei den anderen und wieso er nicht in das Raster passt, findet er aber lange nicht.

Siegener setzt das Puzzle zusammen: „Ich habe ganz Deutschland abtelefoniert“

Bis die Diagnose kommt: Autismus. Diese erhält er allerdings erst vor rund einem Jahr. Der Weg dahin war für Moritz Schumann nicht gerade einfach. Erst will er sich auf ADS (Aufmerksamkeitsstörung) testen lassen. „Ich habe ganz Deutschland abtelefoniert“, erzählt er. Überall lange Wartelisten, die ihn zur Verzweiflung treiben. Ein Vorteil für ihn: „Wenn ich ein Thema gefunden habe, was mich komplett triggert, dann legt das einen Schalter um. Vom ersten Gang, wo gar nichts geht, komme ich dann in den sechsten und mache zehn Stunden lang bis in die Nacht etwas.“ Also sucht er weiter und weiter. Schließlich wird er in Hamburg fündig.

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Trotz knapper Kasse begibt er sich auf die sechsstündige Zugfahrt und macht den teuren ADS-Test. Trotz der Kosten und des Stresses hat er wieder ein Thema, was ihn packt. „Ich war froh, dass ich dann einfach mal weg war. Weg aus meinem Alltag und niemand konnte mich erreichen“, so Moritz Schumann. Wegen Verspätung auf dem Rückweg muss er sogar eine Nacht in Kassel bleiben. Er genießt die Ruhe, bleibt sogar länger. Sein Therapeut empfiehlt ihm, sich auf Autismus testen zu lassen. Nach ähnlich langer Suche hat er in Witten Glück. Nun hat er Klarheit. Er lebt mit der neuronalen Störung. Kommunikation fällt ihm schwer, nach Körperkontakt sehnt er sich nicht, er ist lärmempfindlich. Immer mehr Puzzleteile fallen, Fragezeichen verschwinden.

Moritz Schumann aus Siegen findet Halt im Sport - nicht im Verein: Ihm liegt Kraftsport

Er findet Halt im Sport. Im Verein funktioniert das erst auch nicht. „Während sich alle darum gestritten haben, auf dem Feld zu sein, wollte ich immer auf der Bank sein und hatte immer Angst davor, zu spielen. Ich wollte nicht gesehen werden“, erzählt Moritz Schumann. Der Kraftsport liegt ihm schon eher. Von Anfang an muss er sich nicht motivieren, kann sich komplett darin fallen lassen. „Ich wusste, wenn ich dahin gehe, habe ich meine Musik, weiß ich genau, was passiert, ich muss mit niemandem sprechen und ich kann meinen Stress reduzieren“, sagt er. Seine Kopfhörer hat er sowieso immer dabei. Nimmt er seine Medikamente, kann er seine Konzentration aufrecht halten. Sie bringen sein schwankendes Dopamin-Level in ein Gleichgewicht. Beim Sport hat er mehr Energie als andere, ist teilweise bis zu vier Stunden im Studio.

„Ich kann vieles machen, es ist halt nur die Frage, wie viel Kraft es mich kostet. Ich kann auch abends telefonieren, aber dann kann ich mich darauf einstellen, dass ich die nächsten zwei Stunden danach nicht schlafen gehen kann.“

Moritz Schumann

Umso schwieriger hat er es dann wieder in alltäglichen Gesprächen. „Ich kann vieles machen, es ist halt nur die Frage, wie viel Kraft es mich kostet. Ich kann auch abends telefonieren, aber dann kann ich mich darauf einstellen, dass ich die nächsten zwei Stunden danach nicht schlafen gehen kann“, sagt Moritz Schumann. Teilweise liegt er bis zwölf Uhr mittags im Bett. Schläft er wenig, ist seine soziale Batterie am nächsten Tag noch schwächer. Manchmal hilft ihm ein Trick beim Einschlafen: „Im Bett habe ich mir vorgestellt, dass ich ganz alleine sei. Um mich herum herrschte Nichts. Das hat mich immer beruhigt.“

Siegener lebt mit Autismus: Leidenschaft für Schlagzeug und Videospiele

Situationen mit vielen Reizen überfordern ihn. Vertraute Situationen funktionieren besser. Das merkt er beim Einzel-Schlagzeug-Unterricht. „Bei der Person fühle ich mich sicher und weiß, wie er mit mir umgeht. Ich habe da nicht zehn Leute auf einmal und kann besser steuern, was gleich passieren wird.“ So ist es auch bei Videospielen, eine weitere Leidenschaft von ihm. Ist er an der Konsole, kann er kontrollieren, was als nächstes passiert. Spielt er mit einem engen Freund, kann er sich auf das Spiel konzentrieren, die Abläufe sind klar. „Wenn meine Routinen wegbrechen, dann bricht gedanklich in meinem Kopf ein Chaos aus.“ Besonders schlimm waren die Anfänge nach dem Umzug in die eigene Wohnung.

Moritz Schumann erzählt von seinem Leben mit Autismus. Der Siegener hat mit der Diakonie eine Selbsthilfegruppe für Autisten gegründet.
Moritz Schumann erzählt von seinem Leben mit Autismus. Der Siegener hat mit der Diakonie eine Selbsthilfegruppe für Autisten gegründet. © WP | Jan Kumpmann

„Mir fällt oft auf, dass viele Schwierigkeiten, die Autisten haben, auch neurotypische Menschen betreffen. Nur in einer anderen Intensität“, sagt Moritz Schumann. Sein Zimmer hat nicht viele Möbel, ist minimalistisch, damit er in seinem Zuhause nicht überfordert wird. Ist er in der Schule nervös gewesen, hat er sich oft auf die Lippen gebissen, bis diese nicht mehr zu gebrauchen waren. Er reißt sich sogar seinen kompletten Fingernagel ab. Trotz des großen Schmerzes beruhigt es ihn. Mit der Zeit kann er seine Stressfaktoren immer besser benennen, unsichere Situationen besser kontrollieren. Mittlerweile studiert er soziale Arbeit.

So wie dem 24-jährigen Siegener geht es vielen Autisten: Sie reden wenig bis gar nicht

Er will noch mehr für andere tun, mehr Leute finden, denen es ähnlich geht wie ihm. Zusammen mit der Diakonie Südwestfalen hat er nun eine Selbsthilfegruppe ins Leben gerufen, die sich seit Anfang des Jahres im Sieghütter Hauptweg 3 trifft. Alle zwei Wochen kommen Menschen mit Autismus zusammen und können frei von ihren Erfahrungen berichten. „Wir müssen uns alle erstmal finden, ein Gefühl von Sicherheit erlangen und dass man überhaupt so sein darf, wie man ist“, wie Moritz Schumann sagt. Er leitet die Gruppe, sieht sich aber nicht als derjenige, der Strukturen vorgibt. Jeder soll so viel beitragen, wie er möchte.

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Denn so wie es dem 24-jährigen Siegener geht, geht es vielen. „Eines der hauptsächlichen Probleme dabei ist ja Kommunikation. Das ist eine meiner größten Schwächen, meine Gefühle zu benennen und Zugang zu mir selbst zu finden“, sagt er. Manche Menschen mit Autismus reden wenig bis gar nicht. Die Selbsthilfegruppe soll ein sicherer Ort sein. Einer, an dem man auch einfach nur zuhören und Verständnis zeigen kann. Denn wie Silke Sartor von der Diakonie weiß: „Kennst du einen Autisten, dann kennst du genau einen Autisten.“ Jeder ist anders und hat andere Schwierigkeiten, die mit der Diagnose einhergehen. Vielleicht hilft die Gruppe in Zukunft allen, ein bisschen besser damit umgehen zu können.