Netphen. „Dreimal so schnell Muskelkater, dreimal so heftig, dreimal so lange“: Maik Kassel erschafft in seinem Roman „Jenseits der Dächer“ eine Realität nach seinen Regeln.

„Ich kriege dreimal so schnell Muskelkater wie andere Menschen, der dreimal so heftig ist und dreimal so lange dauert.“ So beschreibt Maik Kassel seine Krankheit. „Hypokaliämische periodische Paralyse“ heißt sie auf dem Papier. In der Realität gibt es Tage, an denen er nicht aufstehen kann, weil seine Muskeln gelähmt sind. Schon als Kind findet er einen Weg, damit umzugehen. Er liest viel und fängt irgendwann an, selbst zu schreiben. Von der realen Welt, in der es so schwer hat, taucht er ein in die der Fantasy – sie hat ihre eigene Regeln und er kann dort die Abenteuer erleben, die ihm in der Wirklichkeit durch seinen Körper verboten werden. Nun hat der Netphener seinen Debütroman „Jenseits der Dächer“ veröffentlicht.

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Die Kindheit von Maik Kassel ist alles andere als einfach. Mit sechs macht sich seine Stoffwechselerkrankung das erste Mal bemerkbar. Seine Eltern sagen ihm, er gehe wie ein Roboter. Ab seinem 18. Lebensjahr wird sein Leben immer schwieriger und schwieriger. Teilweise kann er nicht alleine die Toilette benutzen. Eine Therapie ist so gut wie unmöglich. Macht er Übungen, hat er danach starke Schmerzen.

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Die Musik gibt ihm Kraft: Mit seiner Band „In Dreams of Reality“ spielt er oft in Siegener Clubs und Kneipen, sogar quer durch Deutschland. Seine Bandmitglieder ziehen jedoch weg. Schon lange findet er Halt in der Fantasy-Szene: Bei „Live-Rollenspielen“ schlüpft er mit seinen Freunden in die Rolle von Spielfiguren. Mit Kostümen und Dialogen auf filmreifen Schauplätzen in der Natur versetzt er sich in eine andere Welt. Doch irgendwann geht das alles nicht mehr.

Der Weg zum Buch

Auch sein Studium belastet ihn. Der Weg die Treppen hoch zum Hörsaal, das lange Sitzen auf den harten Stühlen – für andere nervig, für Maik Kassel furchtbar schmerzhaft. Bei seinem Bachelor in Wirtschaftsinformatik wird er zwar Jahrgangsbester, doch er hasst sein Studium. Nun ist der 28-Jährige kurz vor seinem Master, studiert bereits seit fast zehn Jahren. Schon lange ist ihm klar: Es dient nur zur Absicherung, seine Bestimmung ist es, Autor zu sein. „Du musst das auf jeden Fall alles aufschreiben“, steht nun als Zitat seiner Mutter auf den ersten Seiten von „Jenseits der Dächer“, dem Debütroman von Maik Kassel. Es ist nicht das erste Buch, das er geschrieben hat. Mit zehn Jahren sagt er zum ersten Mal, dass er einen Roman schreiben will, nachdem er den Fantasy-Klassiker „Eragon“ liest. Mit 15 folgt der erste ernste Anlauf, mit 18 ist das erste Buch fertig. „Das war furchtbar. Die Charaktere waren flach und das Setting von anderen Franchises übernommen“, erinnert sich Maik Kassel mit einem Lächeln.

500 Seiten zwischen Buchdeckeln: Das ist der Erstling von Maik Kassel.
500 Seiten zwischen Buchdeckeln: Das ist der Erstling von Maik Kassel. © WP | Privat

Mit den 500 Seiten von „Jenseits der Dächer“ ist er deutlich zufriedener. Es geht um die Stadt Velis Van, die von Arkantechnik, der wissenschaftlichen Umsetzung von Magie, automatisiert ist. Das fantastische Volk der Vel ist von einer Krankheit betroffen, die sich die Schwäche nennt. Für die Drecksarbeit holen sie sich menschliche Sklaven. Einer dieser ist der Hauptcharakter Jaris, ein Läufersklave, „wie ein etwas besserer Lieferbote“. Seine Botengänge erfüllt er, indem er über die Dächer der Stadt rennt. Mit zwei Freunden will er aus der Stadt raus. Aus diesen Plänen wird irgendwann eine Not.

Ein Gefühl von Freiheit, Geschwindigkeit und Mobilität

Freunde, die seinen Roman Korrektur lesen, fällt schnell etwas auf. Sie fragen Maik Kassel, ob er sich selbst im Hauptcharakter sieht. Ein bisschen so ist es: „Das Gefühl von Freiheit, von Geschwindigkeit und Mobilität, das bei Jaris‘ Parkour über die Dächer entsteht, ist etwas, was ich nie haben werde. Vielleicht ist hier tiefe Sehnsucht mit eingeflossen“, überlegt Maik Kassel. Weder die Parallelen zwischen der Schwäche der Vel und seiner Muskelkrankheit, noch Jaris als Kontrastperson zur Krankheit waren geplant, wie er sagt. Doch er erkennt, dass seine Testleser Recht haben. Die Fragen, was Heimat bedeutet und wie eine Gesellschaft mit einer existenziellen Krisen umgeht, spielen eine zentrale Rolle im Roman.

„Vielleicht ist hier tiefe Sehnsucht mit eingeflossen.“

Maik Kassel, Autor von „Jenseits der Dächer“

Vor „Jenseits der Dächer“ sollte ein anderer Fantasy-Roman sein erstes veröffentlichtes Buch werden. „Nordlicht“ liegt ihm sehr am Herzen, ist mit 800 Seiten jedoch etwas zu lang gewesen. Irgendwann werden es seine Leser aber bekommen. Zwei weitere Bücher sind aktuell noch in Arbeit. Schaut man sich die Arbeitsstunden von Maik Kassel an, wird klar, dass sich ein Roman nicht einfach so nebenbei schreiben lässt. Allein für die Planung und den Entwurf der Fantasy-Welt und der Hintergründe braucht er 66 Stunden, 85 dauert die erste Fassung. Hinzu kommen ganze dreizehn Überarbeitungen, die am Ende eine Summe von 770 Arbeitsstunden für „Jenseits der Dächer“ ergeben. „Ich arbeite jeden Tag mindestens vier Stunden an meinen Büchern. In der Regal hab ich kein Wochenende“, so Maik Kassel.

Die erste Fassung des Romans entsteht innerhalb eines Monats

Während der ersten Fassung legt er sich aber so richtig ins Zeug, bis zu sieben Stunden täglich schreibt er am Tag. Denn das Kuriose: Er schreibt diese in nur einem Monat. Er nimmt beim amerikanischen Schreibprojekt des „National Novel Writing Month“ teil, bei der das Ziel ist, einen Roman mit mindestens 50.000 Wörtern in den 30 Tagen des Novembers zu schreiben. Viele Autoren machen jährlich mit, Maik Kassel unterscheidet sich etwas von allen. Mit YouTube-Videos von Vorlesungen bringt er sich das Schreiben selbst bei, lernt damit die richtigen Techniken und Vorgaben, um einen guten Roman zu kreieren. In einem Monat entstand so „Jenseits der Dächer“. „Es war nicht die gesündeste Zeit meines Lebens“, weiß Maik Kassel. Auf die Uni verzichtet er für das einmonatige Projekt während dieser Zeit komplett, wie er sich schmunzelnd erinnert.

Maik Kassel zeigt etwas auf der Karte von „Velis Van“. Es ist die Stadt, in der der Fantasy-Debütroman des Netpheners spielt.
Maik Kassel zeigt etwas auf der Karte von „Velis Van“. Es ist die Stadt, in der der Fantasy-Debütroman des Netpheners spielt. © WP | Jan Kumpmann

Die Gesetze der Fantasy-Welt

Denn mit dem Erschaffen einer Fantasy-Welt kann man es bei allen kreativen Freiheiten kaum schwieriger machen. Die Welt hat eigene physikalische Gesetze, denen man während des gesamten Schreibens treu bleiben muss. „Das ist wirklich der komplizierteste und schwierigste Teil. Gerade wenn man die Ambition hat, eine lebendige Welt mit Tiefgang zu erschaffen“, so Maik Kassel. Also: ein Haufen Arbeit, die viel Konzentration verlangt und beim langen Sitzen am Schreibtisch für den jungen Autor aufgrund seiner Muskelkrankheit sehr fordernd sein kann. Umso schöner ist für ihn die Unterstützung seiner Eltern und vor allem von seiner Freundin Tanja Schneider, die genauso Fantasy-begeistert ist. Die Grafikgestalterin, die auf Instagram unter @nehelyn ihre Zeichnungen teilt, hat für ihn das Cover designt und sogar eine Landkarte der Fantasy-Welt sowie einen Energydrink als „Manawasser“ gestaltet. Alles konnten die Schnellsten in Bonus-Boxen zum Buch bestellen.

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„Jenseits der Dächer“ ist ein wichtiger Schritt im Leben von Maik Kassel. So lange es irgendwie geht, will er sich mit Teilzeitjobs über Wasser halten, um seinem größten Hobby nachzugehen. Er kann auf seine eigene Art Abenteuer erleben. „Ich mag ‚Flucht aus der Realität‘ als Begriff nicht, schöner finde ich es, wenn man von ‚weiteren Realität‘ spricht, in denen man sich auf Wunsch verlieren kann, um einfach abzuschalten. Wie Urlaub“, sagt Maik Kassel. Dort vergisst er für eine Weile alles, was das Leben oft so schwer für ihn macht.

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