Siegen-Wittgenstein. Junge Menschen müssen sich nicht mehr für einen Ausbildungsplatz bewerben, vielmehr rollen Firmen ihnen den roten Teppich aus. Das hat Folgen.
Der Lehrstellenmarkt ist gekippt: Vor einigen Jahren standen junge Menschen im Wettbewerb um begehrte Ausbildungsplätze – heute ist es genau andersherum: „Firmen müssen ihnen den roten Teppich ausrollen“, sagt Klaus Gräbener, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer (IHK) Siegen. Ursachen sind der demografische Wandel, der Trend zur Akademisierung und ein verändertes Informations- und Bewerbungsverhalten junger Menschen, die bei ihrer Berufsorientierung vor allem online und auf Social Media unterwegs sind.
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Die IHK und ihre Mitgliedsunternehmen wollen und müssen sich darauf einstellen. „Der Wurm muss dem Fisch schmecken“, sagt Klaus Gräbener, man werde das gemeinsam angehen, sich verstärkt Online widmen: „Wer das Problem nicht angeht, wird ein Problem haben.“ In der Azubi-Akquise sei es daher wichtig, Wissen und Erfahrung der jüngeren Beschäftigten verstärkt zu nutzen. Um im Bild zu bleiben: „Die Angel zielgerichteter auswerfen.“
Familien und Schulen in Siegen-Wittgenstein für Berufsorientierung in Fokus
Große Berufsorientierungsmessen werden immer mehr abgelöst von kleineren, dezentralen Veranstaltungen, viele Schulen führen inzwischen eigene Messen durch – ebenfalls Ausdruck des veränderten Informationsverhaltens, auch darauf müssen sich Firmen einstellen, sagt Klaus Gräbener – bei der Azubi-Werbung verstärkt auf Schulen und Eltern zu setzen, um ihnen die Vorzüge einer betrieblichen Ausbildung aufzuzeigen, die Informations- und Beratungsstrukturen zu verstärken. Gerade auch die Familien würden eine entscheidende Rolle spielen bei der Berufswahl.
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Die Bezahlung während der Lehre ist nach Einschätzung der IHK nicht das Kernproblem: In Industrie und Handel sei die Vergütung während der vergangenen Jahre gestiegen, Lehrgeld von mehr als 1000 Euro seien keine Seltenheit. Es geht ums Image – und um ebenfalls veränderte Lebens- und Arbeitsmodelle, in denen der Freizeitanteil immer höheres Gewicht hat.
Azubis wollen weniger in die Produktion – Verwaltungstätigkeiten gefragt
Rund 450 Lehrverträge mehr hätten im vergangenen Jahr IHK-Bezirk abgeschlossen werden können, wenn es genug Ausbildungswillige gegeben hätte. Insgesamt waren es 1899 in den beiden Kreisen Siegen-Wittgenstein und Olpe, das entspricht einem Rückgang von 1,8 Prozent. In Siegen-Wittgenstein betrug der Rückgang gar 2,7 Prozent (1256 neue Verträge). Der Kreis Olpe verzeichnet in den industriellen Metall- und Elektroberufen einen Zuwachs von 2,3 %; Siegen-Wittgenstein einen erheblichen Rückgang um 5,6 %.
Die Zahlen seien umso schmerzlicher, weil die durch Corona verlorenen Ausbildungsbewerbungen noch längst nicht aufgeholt seien, stellt IHK-Geschäftsführerin Sabine Bechheim fest.
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Vor allem der produktionsorientierte Bereich muss dabei nach den Zahlen der Kammer Verluste verzeichnen, die verwaltenden Tätigkeiten nehmen tendenziell sogar zu (in Siegen-Wittgenstein um 17 Prozent). Im Vergleich der Vorjahre seien das in einer generell nicht zufriedenstellenden Situation zwar keine riesigen Ausschläge – mit Ausnahme des ländlichen Raums. So ist der Rückgang der Lehrstellenverträge über die meisten Branchen hinweg besonders in Wittgenstein spürbar (- 44 % in Erndtebrück, - 30 % in Bad Laasphe, - 20 % in Bad Berleburg.), wo auch die fehlenden Beschulungsmöglichkeiten eine Rolle spielen: Wenn weite Fahrten in Kauf genommen werden müssen, um das Berufskolleg zu erreichen – manche Fachklassen werden in Hagen oder Dortmund unterrichtet –, kann das die Entscheidung gegen die Lehrstelle in der Umgebung des Wohnorts maßgeblich beeinflussen. „Über die Brücke fährt man nicht so gern“, sagt Klaus Gräbener. Damit ist tendenziell auch die Bildungsinfrastruktur bedroht, weil Klassengrößen nicht mehr eingehalten werden können. Die IHK fordert digitaleren und flexibleren Unterricht.
Ausbildungsmessen in Siegen-Wittgenstein werden neu aufgestellt
„Das Problem ist bei allen gleichermaßen angekommen“, so der IHK-Hauptgeschäftsführer, nur trifft der Azubi-Rückgang die Unternehmen zunächst unterschiedlich hart. Für größere Betriebe ist es weniger dramatisch, wenn sie nicht alle, aber einige Plätze besetzen können als für kleine Firmen, die gar keine Azubis für ihre wenigen Stellen finden. Für sie ist es doppelt schwer, weil auch der Arbeitsmarkt leergefegt ist und der Fachkräftebedarf auch so nicht gedeckt werden kann. „Sie sind von zwei Seiten in der Zange“, stellt Gräbener fest. Ohne Gegensteuern wird sich das Problem weiter verschärfen, prognostiziert die Kammer, die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente.
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Die Ausbildungsmessen als Instrument der Berufsorientierung würden derzeit neu aufgestellt, daran beteiligten sich nach IHK-Angaben etliche Unternehmen und auch Schulen – was das hohe Interesse an einer kontinuierlichen Nachwuchssicherung zeige.