Lennestadt. 2015 ging es vor allem um Existenzsicherung, heute um Integration der Flüchtlinge. Sozialamtsmitarbeiter aus Lennestadt ziehen eine erste Bilanz.
Die Flüchtlingswelle jährt sich in diesem Sommer zum fünften Mal. Millionen Menschen sind 2015 aus Kriegs- und Krisengebieten geflohen, haben ihre Heimat verlassen, um ein sicheres, neues Zuhause zu finden. Bilder von Flüchtlingen, die Fotos von Angela Merkel hochhalten, sind um die Welt gegangen. Auch der Kreis Olpe wurde Zufluchtsort von tausenden Menschen. Das brachte die Kommunen zeitweise an ihre Belastungsgrenze. Doch wie sieht es heute, fünf Jahre später aus? Thomas Meier, Fachbereichsleiter für Schulen und Soziales, Karima Klose vom Hanah-Servicebüro und Jens Dommes, Bereichsleiter für Familie, Soziales und Integration, haben die Entwicklungen in Lennestadt von Anfang an mitbegleitet. Sie sagen: Die weitaus schwierigere Aufgabe liegt noch vor uns.
Angela Merkels Kommentar „Wir schaffen das“ ist ein Satz mit großer Tragweite und eng mit der deutschen Flüchtlingsdebatte verbunden. Bezogen auf Ihre Erfahrungen in Lennestadt: Haben wir es geschafft? Und: Was eigentlich genau?
Thomas Meier: Die Kommunen mussten sich logischerweise dieser Aufgabe stellen. Das war in den ersten zwölf Monaten eine extreme Belastung, weil wir unsere Unterkünfte extrem ausbauen mussten. Vor 2015/2014 hatten wir als Stadt mit etwa 25.000 Einwohnern nicht sonderlich viele Asylbewerber. Da gab es hier und da mal eine Zuweisung, insgesamt war man vielleicht für 50 bis 100 Menschen zuständig. Darauf hatten wir unsere Kapazitäten ausgelegt. In der Spitze waren es allerdings über 600 Asylbewerber, die man unterbringen musste.
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Insgesamt hat sich die Stadt aber hervorragend dieser Aufgabe gestellt. Wir hätten es nicht hinbekommen, wenn nicht auch Vermieter bereit gewesen wären, Wohnungen zur Verfügung zu stellen, oder wenn es keine Ehrenamtliche gegeben hätte, die von Anfang an total unterstützend eingegriffen hätten. Man kann nie sagen, dass man es geschafft hat, weil das eine permanente Aufgabe ist. Wir sind mittendrin.
Wann hört man auf, Flüchtling zu sein? Oder wird das immer ein Teil der persönlichen Biographie bleiben?
Jens Dommes: In den 90er-Jahren gab es auch schon Menschen die aufgrund der Jugoslawien-Kriege zu uns gekommen sind. Wenn man diese Leute fragt, dann betrachten sie sich selbst nicht mehr als Flüchtlinge. Aber es ist schwer, einen genauen Zeitpunkt dafür festzulegen.
Thomas Meier: Flüchtling ist leider ein Begriff, mit dem man alle Menschen in einen Topf wirft. Allein schon wegen des verschiedenen rechtlichen Status ist das nicht richtig. Es gibt immer unterschiedliche Bleibeperspektiven. Es gibt Menschen, die sind schon seit 20 Jahren hier und sind immer noch nur geduldet. Solche Menschen haben natürlich eine permanente Unsicherheit und werden sich deswegen auch nicht als Teil der Gesellschaft komplett integriert betrachten können. Den einen Flüchtling gibt es nicht.
Karima Klose: Genauso gut gibt es aber auch Menschen, die hier mittlerweile vollkommen angekommen sind und sich zuhause fühlen. Menschen, die feste Arbeitsverträge oder eine Ausbildung abgeschlossen haben. Als ich meinen Bundesfreiwilligendienst 2015 in der Hauptschule in Meggen angefangen habe, habe ich in erster Linie Kinder im DaZ-Unterricht („Deutsch als Zweitsprache“, Anm. der Red.) begleitet. Und die fühlen sich nach fünf Jahren mittlerweile richtig wohl, sind gut in der Schule und haben teilweise gute Abschlüsse.
Die meisten Flüchtlinge sind 2015 aus Syrien, Afghanistan und dem Irak gekommen. Wie groß empfanden bzw. empfinden die Menschen die kulturelle Diskrepanz zu Deutschland?
J
ens Dommes: Manche, das sind aber Einzelfälle, sind freiwillig in ihr Heimatland zurückgekehrt, weil sich ihre Vorstellungen in Deutschland nicht erfüllt haben. Das fängt bei Kleinigkeiten wie dem Wetter an und geht weiter bis hin zur Pünktlichkeit und Bürokratie.
Karima Klose: Mietverträge sind ein gutes Beispiel. In Deutschland bekommt man ein mehrseitiges Dokument, in den Heimatländern der Geflüchteten ist es nicht selten so, dass solche Verträge mündlich abgeschlossen werden. Da kommen wir vom Hanah-Servicebüro ins Spiel. Wir unterstützen dann bei den Ausfüllen der Anträge. Dazu gehören auch Jobcenter-Anträge, BAföG-Anträge oder Anträge auf Kinder- oder Elterngeld.
Thomas Meier: Damit leisten wir Hilfe zur Selbsthilfe. Das bedeutet, dass wir nicht zum zehnten Mal den Jobcenter-Antrag ausfüllen, sondern wir erwarten auch ein Zutun der anderen Seite. Ganz am Anfang der Flüchtlingsbewegung waren viele verunsichert und hatten das Gefühl, dass man die Geflüchteten in Watte packen muss und ihn möglichst viel abnehmen muss. Das ist aber total kontraproduktiv. Natürlich gibt es immer wieder welche – das ist aber in jeder Kultur so – die werden es nie selbst hinbekommen. Da muss man dann helfen, damit diese Menschen nicht komplett durch das Raster fallen.
Dezentrale Unterbringungen, mehr Personal, Gesundheitsversorgung und Bildung: Diese zusätzlichen Aufwendungen für Geflüchtete haben Millionen gekostet. Wie sieht die finanzielle Lage heute aus?
Jens Dommes: „Wir schaffen das“ trifft sicherlich auf den Bereich der Existenzsicherung zu. 2015 hat man sich vor allem darum bemüht, dass die Menschen ein Dach über den Kopf bekamen, Kleidung und Nahrung. Das wurde unter enormen Kraftaufwand geleistet. Jetzt sind wir im Integrationsprozess angekommen. Und diese Arbeit wird nicht weniger. Die zentrale Frage hierbei, die sich die Politik stellen muss: Was ist der Anspruch? Wie soll eine erfolgreiche Integration aussehen und wie kann sie gelingen? Dementsprechend müssen die Mittel bereitgestellt werden. Wenn die Länder die Kommunen aber finanziell nicht so ausstatten wie im Anspruch vorgegeben, wird es vielleicht irgendwann nicht mehr zu leisten sein.
Thomas Meier: Natürlich hat der Aufwand im Vergleich zu 2015 ein bisschen abgenommen, weil wir nicht mehr so viele Menschen haben, die wir betreuen müssen. Aber das heißt auch, dass wir jetzt viel weniger Geld vom Land bekommen. Und das Krude in diesem Zusammenhang: Für Menschen, die geduldet sind, bekommt man nur drei Monate Geld vom Land (Anm. der Red.: Laut Flüchtlingsaufnahmegesetz bekommt eine NRW-Kommune 866 Euro pro Flüchtling im Monat). Danach bekommt man nichts mehr. Heißt: Die Kommunen sitzen zu 100 Prozent auf den Kosten, obwohl sie gar keinen Einfluss darauf haben, was mit den Menschen passiert. Solche Duldungen können über Jahre gehen.
Abgesehen von den kulturellen Unterschieden: Was sind die größten Herausforderungen für die Geflüchteten, um dauerhaft Fuß in Deutschland zu fassen?
Karima Klose: Der Startpunkt und der Schlüssel zu allem Anderen ist die deutsche Sprache. Ich habe zum Beispiel eine Frauengruppe geleitet mit Müttern von Kleinkindern, die auch zum Kurs mitgekommen sind. Die Frauen, die sonst eher zuhause waren und mit der Versorgung und Erziehung ihrer Kinder beschäftigt waren, sollten damit zumindest ein bisschen Deutsch für den Alltag lernen. Um beispielsweise bei Ärzten und Kinderärzten zurechtzukommen.
Thomas Meier: Besonders entscheidend ist der Bildungsstand. Es gibt Menschen, die in ihrem Heimatland vielleicht in der Landwirtschaft gearbeitet und Analphabeten sind oder nur ein paar Jahre die Schule besucht haben. Und es gibt welche, die einen Schulabschluss oder sogar studiert haben und denen es naturgemäß einfacher fällt, eine neue Sprache zu erlernen, weil sie die dafür notwendige Methodik erlernt haben.
Jens Dommes: Sprache ist auch die Voraussetzung dafür, am sozialen Leben überhaupt teilnehmen zu können. Dazu gehören Gespräche mit den Nachbarn, um Missverständnisse vorzubeugen und aus dem Weg zu räumen. Banales Beispiel: Manche wissen nicht, dass, wenn sie eine eigene Wohnung haben, der Bürgersteig gefegt werden muss oder im Winter gestreut werden muss. Oder Mülltrennung. Das sind alles Situationen, in denen sich Konflikte hochschaukeln können und rassistische Vorurteile geschürt werden können. Integration ist langwieriger, ein Marathon und kein Sprint.