Olpe. Nezahat Baradari (SPD) aus Attendorn ist vor einem Jahr in den Bundestag nachgerückt – und hat dort Kollegen vielleicht schon das Leben gerettet.

Seit einem Jahr sitzt Nezahat Baradari im Deutschen Bundestag – und die SPD-Politikerin ist in bewegten Zeiten in das Parlament nachgerückt. Im Interview zieht sie Bilanz und spricht über kleine Erfolge, großen Streit – und medizinische Notfälle.

In ihrem ersten Jahr als Mitglied des Deutschen Bundestages stand die schwarz-rote Bundesregierung mehrfach auf der Kippe. Warum wirkt die Koalition so zerstritten?


Nezahat Baradari: Es ist immer eine Herausforderung, wenn Parteien, die sich inhaltlich so diametral gegenüber stehen wie CDU/CSU und SPD, eine gemeinsame Regierung bilden müssen. Das bringt Streit mit sich. Aber ich hoffe, dass die Menschen anerkennen, dass die Parteien sich um die aus ihrer Sicht beste Lösung bemühen. Schwarz-weiß-Lösungen funktionieren nicht, deswegen sollten Kompromisse nicht so verächtlich gemacht werden, wie das immer wieder passiert. Der Kompromiss ist immer noch die Königsdisziplin der Demokratie.

Wunsch nach weniger Scharfmacherei

Also ist die Regierung besser als ihr Ruf?

Das sehe ich so – auch wenn natürlich noch viel vor uns liegt. Aber wir haben unter anderem eine Mindestausbildungsvergütung eingeführt, Bafög und Renten erhöht, das Starke-Familien-Paket verabschiedet, einen Digitalpakt über fünf Milliarden Euro und die weitgehende Abschaffung des Soli beschlossen. Wir haben bei der Grundsteuer-Reform einen guten Konsens für alle gefunden und das Pflegestärkungsgesetz auf den Weg gebracht. Das darf man nicht unter den Tisch kehren. Es gibt nicht nur die Bon-Pflicht.

In Umfragen verharrt die SPD dennoch seit Monaten zwischen 12 und 15 Prozent. Warum geht es nicht wieder aufwärts?

Hinter der SPD liegt ein sehr unruhiges Jahr, denn wir gehen als Partei durch einen Transformationsprozess. Bei der Wahl der neuen Parteispitze wollten wir die Mitglieder mitnehmen, deshalb wurde es ein sehr langer Prozess. Und es gab harte Auseinandersetzungen – auch mit dem Koalitionspartner –, die von manchen Medien dann auch noch aufgebauscht wurden. Da wünsche ich mir manchmal weniger Scharfmacherei. Die Erfolge kommen zu kurz.

Nach Ministerpräsidenten-Wahl in Thüringen und dem angekündigten Rückzug Annegret Kramp-Karrenbauers: Welche Auswirkungen haben die Entwicklungen der vergangenen Woche auf Ihre Arbeit im Bundestag und die Koalition?

Die Auswirkungen auf unser Demokratieverständnis sind enorm. Mir läuft es immer noch kalt den Rücken herunter, dass das von langer Hand vorbereitete Komplott mit Wissen der FDP- und CDU-Vorsitzenden zustande gekommen ist. Der Rücktritt von Annegret Kramp-Karrenbauer ist richtig und konsequent. Nach ihrem Rücktritt ist für mich als Sozialdemokratin die Herausforderung noch größer geworden, gegen Demokratiefeinde zu kämpfen. Als deutsche Abgeordnete mit Migrationshintergrund fragen wir uns als Familie, ob wir in Deutschland in Zukunft noch sicher sein können. Was ist mit unseren und allen Kindern, die hier geboren sind und nie ein anderes Land kennengelernt haben? Die SPD arbeitet in der Bundestagsfraktion weiter und übernimmt die Verantwortung für dieses Land und sie ist zur Zeit der stabilisierende Faktor.

Blick auf Vorsitzenden-Wahl bei der CDU

Würde die Zusammenarbeit mit der Union unter einem möglichen neuen CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz so weitergehen können wie bislang?

Ich persönlich sehe ich da Schwierigkeiten.

Wie sieht Ihre persönliche Bilanz nach einem Jahr als Abgeordnete aus?

Als Nachrückerin habe ich mir nicht die Ausschüsse wählen können. Ich bin im Ausschuss für europäische Angelegenheiten ordentliches Mitglied und habe mich dort für eine EU-Erweiterung eingesetzt. Da war aber natürlich auch der Brexit-Prozess ein großes Thema. Meine zweite Rede im Plenum habe ich im Bereich der Ernährung und Landwirtschaft über Antibiotika-Resistenzen durch den Verzehr von Geflügel gehalten und die Landwirtschaftsministerin gezwungen, bei den Verhandlungen mit der Geflügelwirtschaft hart zu bleiben. Und im Bereich Gesundheit und Ernährung haben wir zum Beispiel eine Mengenbegrenzung für ein Hormongift im Trinkwasser durchgesetzt. Die großen Dinge entscheiden sich oft im Kleinen.

Wie nehmen Sie die Atmosphäre im Bundestag wahr?

Wir haben eine veränderte Situation, weil mit der AfD ein rauerer Ton Einzug in den Deutschen Bundestag gehalten hat. Deren Wortwahl ist dem hohen Hause oft nicht würdig. Das führt dazu, dass nicht mehr mit gegenseitiger Wertschätzung diskutiert wird. Es sind nicht nur die Umwälzungen im Bereich Klimawandel, Digitalisierung und Sozialem, die mich beschäftigen. Der Rechtsdrift der Gesellschaft ist eine besondere Herausforderung.

Kollegen nach Zusammenbruch medizinisch betreut

Gab es abseits der politischen Debatten einen Moment, der Ihnen aus diesem ersten Jahr als Abgeordnete in Erinnerung bleiben wird?

Da fällt mir ein notfallmedizinischer Einsatz ein, nachdem ein Kollege ernsthaft zusammenbrach. Und am selben Tag ist eine andere Kollegin dann auch kollabiert. Auch sie konnte ich verarzten. Das habe ich zum Anlass genommen, um die Notfallkoffer im Bundestag zu checken und das veraltete Equipment auf den neuesten Stand bringen zu lassen.

Und die beiden Kollegen?

Denen geht es zum Glück wieder gut und sie haben sich für die Hilfe bedankt.