Herdecke. Vor einem halben Jahrhundert stand Inge Waltenberg im Imbisswagen ihrer Eltern. Heute ist sie 79 Jahre alt und immer noch unvergessen.

Kaffee, ein alkoholfreies Bier, zwei halbe Schinkenbrötchen und Mini-Tomaten: Inge Waltenberg hat dem Redakteur ein kleines Frühstück auf den Tisch gestellt. „Ich gebe halt gern“, sagt sie. Das war nicht anders, als sie noch im elterlichen Pommeswagen Fritten oder Schaschlik über die Theke gereicht hat. Ihre Herzlichkeit ist unvergessen. Am Donnerstag erst auf dem Markt hat sie ein Kunde, damals noch ein Kind, gefragt: „Darf ich Sie drücken?“ Und wie zur Erklärung: „Die Frikadellen bei Ihnen waren immer so gut.“

Die Schufterei im „Pommes Center“, wie Inge Waltenberg den Imbisswagen selbst gerne nennt, liegt Jahrzehnte zurück. Sie war nicht das, was sich das Mädchen aus Herdecke erträumt hatte. Weil den Eltern das Geld fürs Gymnasium fehlte, wurde es nichts mit dem Abitur. So gerne sie auch irgendetwas mit Kindern gemacht hätte, musste sie sich in eine Ausbildung zur Kauffrau bei der Konsumgenossenschaft Dortmund Hamm in Hagen fügen. Mit Anfang Zwanzig schließlich stand sie auch schon im Wagen.

Harter Job bis in die Nacht

„Kein Samstag, kein Sonntag, kein Feiertag“, erinnert sich Inge Waltenberg an die Plackerei. Manchmal ging‘s bis ein Uhr in der Nacht. Und wenn gerade alles geputzt war, kündigte sich noch ein Verein mit vielen Hungermäulern an. Alles ging von vorne los. Anfangs stand der Wagen auf dem freien Platz, wo zu Beginn der siebziger Jahre der Karstadt hochgezogen wurde. Jahrelang war der Imbiss dann vor Kopf des Warenhauses aufgestellt, daneben ein Kiosk und ein städtisches WC. Zum Schluss wurde die Wagenklappe dicht am heutigen Action-Markt hochgedrückt.

Auch mit einem Stand in Herdecke unterwegs: Paula und Ludwig Waltenberg bereiten Würstchen zu.
Auch mit einem Stand in Herdecke unterwegs: Paula und Ludwig Waltenberg bereiten Würstchen zu. © WP | Privat

„Da sehe ich aus, als hätte ich gerade einen Joint geraucht“, sagt Inge Waltenberg über ein Foto, das sie mit ihrer Mutter Paula im Pommescenter zeigt. Vermutlich steht ihr mehr die Müdigkeit ins Gesicht geschrieben. Neben ihr hängt eine Preistafel. An oberster Stelle steht Bratwurst, eine Mark und zwanzig Pfennige das Stück. Nicht nur am heutigen Mühlencenter wurde sie verkauft. Mit einem Stand waren ihre Eltern auf der Kirmes vertreten oder bei der Kanuregatta am Schiffwinkel. „Die haben hart gearbeitet“, sagt Inge Walternberg über ihre Eltern. Am Ende hat es für ein Häuschen am Semberg gereicht, das die 79-Jährige jetzt bewohnt.

„Inge und ihre Kinder“

Eigene Kinder hat Inge Waltenberg nicht bekommen. Aber ihr Mann brachte zwei Kinder mit in die Ehe, und so gibt es drei Enkelkinder und mittlerweile auch Urenkel. Bilder auf dem Schrank im Esszimmer zeigen sie, auch links und rechts neben dem Durchgang zum Wohnzimmer hängt ein Rahmen mit Portraits neben dem anderen. So hat sie ihre Familie fest um sich versammelt, wobei der Begriff weit gefasst ist und auch gute Freunde meint. Nicht zufällig auch heißt die Whatsapp-Gruppe mit früheren Kollegen „Inge und ihre Kinder“.

Die Kollegen stammen aus ihrer Zeit als Verkäuferin im Kaufpark am Zweibrücker Hof. Später stand sie noch zwölf Jahre jeden Samstag in einer Lottoannahmestelle. Als Pommes Inge aber blieb sie nicht vergessen. Immer wieder wollten Kunden der Annahmestelle wissen, nach welchen Rezepten ihr Vater seine Soßen gemacht hatte. Es war wohl auch ihre erfrischende wie aufmerksame Art, die auch in anderer Umgebung gut ankam: „Der Rewe zahlt dir zwar deinen Lohn, aber das Geld dafür kommt von den Kunden“, hat sie ihren jungen Kollegen eingeschärft. Über sich selbst sagt sie „Ich war immer eine sehr freundliche Verkäuferin.“

Keiner muss hungrig weggehen

Manchmal musste auch gar nicht gekauft werden. „Wenn Schüler nicht genügend Geld hatten, bekamen sie auch so etwas“, zeigt sie sich als Gönnerin, ganz wie sie es im Elternhaus gelernt hat. Noch heute schwärmt sie für ihren Vater Ludwig und dessen Großherzigkeit. Einer seiner Lieblingssprüche sei gewesen: „Es fallen so viele Pommes auf die Erde. Für ein Kinderhändchen ist da immer etwas übrig.“ Vielleicht versüßt diese Einstellung auch die Erinnerung, wie sie gerade in der Facebook-Gruppe „Wir aus Herdecke“ gepflegt wird.

Entspannt: Inge Waltenberg vor wenigen Jahren in der Nähe vom Möhnesee.
Entspannt: Inge Waltenberg vor wenigen Jahren in der Nähe vom Möhnesee. © WP | Privat

Unter einem Bild vom Pommeswagen geht der Daumen hoch für Pommes Inge – ein Name übrigens, den sie als Auszeichnung betrachtet. „Sofort wiedererkannt. Mein Gott, ist das lange her“, schreibt ein Gruppenmitglied. Ein anderes erinnert sich: „Ich bin als Zwölfjähriger (1972) gerne von Boele nach Herdecke geradelt, um bei Inge Pommes zu essen.“ Fast wäre das Lob an ihr vorbei gegangen. Inge Waltenberg hat zwar ein modernes Smartphone, das sie auch als Bildspeicher nutzt. Internet aber hat sie nicht. Dafür einen Neffen, der die Einträge gefunden und ihr davon berichtet hat.

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Der Notizblock des Reporters ist ausreichend gefüllt, das zweite Frühstück nebenbei verdrückt. Nur das alkoholfreie Bier ist übrig geblieben. „Das müssen Sie jetzt aber mitnehmen“, sagt Inge Waltenberg so freundlich wie bestimmt. Keine große Sache, sagt sie. „Ich kenne es nicht anders.“