Herdecke. Die Schreie aus dem Seniorenheim am Nacken bewegen die Leser. Auch ein Arzt hat geschrieben und die Huntington-Selbsthilfe NRW. Hier ihr Echo

Die neuen Bewohner am Nacken schreien, weil das zu ihrem Krankheitsbild zählt. Es handelt sich um Schwerstpflegefälle. Die alten Anwohner finden, dass die Schreie nicht auszuhalten sind. Ein Dilemma, zu dem viele Leser sich auf Facebook und mit Leserbriefen zu Wort gemeldet haben. Hier einige Auszüge.

Lisa Scharloh fragt auf Facebook: „Wo bleibt die Inklusion, über die wir immer sprechen? Und die gelebt werden soll? Inklusion bedeutet eben nicht nur, den Bürgersteig abzusenken!“ Andreas Fieberg will das nicht gelten lassen: „Wissen Sie, über was Sie hier reden?“, fragt er zurück. „Sind Sie schon mal monatelang ohne geregelten Schlaf gewesen? Wissen Sie, wie sich das auf den Organismus auswirkt?“ Was habe eine solche Situation mit Inklusion zu tun?

Sehr widersprüchlich wird auch diskutiert, was von einer Ruhigstellung der Erkrankten zu halten ist. Lena Schewe schreibt: „Die Bewohner also mit Medikamenten abschießen? Die Bewohner, die sich teilweise nicht anders äußern können als zu lautieren? Die soll man dann mit Medikamenten ruhig stellen?“ In einem anderen Beitrag heißt es dagegen, dass man den Anwohnern die gleiche Empathie entgegenbringen sollte wie den Bewohnern und das bei der Ortswahl für eine solche Schwerstpflegeeinrichtung entsprechend berücksichtigen.

„Vielen bleibt nur das laute Klagen“

Mit einem Leserbrief hat sich der Urologie Dr. med Carsten Wach zu Wort gemeldet. Er schreibt: „Ich betreue als Arzt seit nunmehr sechs Jahren die schwerstkörperlich und geistig behinderten Patienten der Spezialpflege der ESV zunächst in Volmarstein (Bethanien) jetzt auch in der neun Pflegeeinrichtung am Nacken in Herdecke. Ich bin tief erschüttert über die Beschwerde der Anwohner, die sich durch das Schreien der schwerstpflegebedürftigen Patienten gestört fühlen. Wir leben zunehmend in einer Gesellschaft der Intoleranz, Selbstverliebtheit und Egoismus. Einige Bürger lehnen Kindergärten, Windräder, Flüchtlingsheim und jetzt auch Pflegeeinrichtungen ab, weil sie Ihre persönliche ,Komfortzone’ stören. Was kommt als nächstes? Ein Krankenhaus? Eine Feuerwehr, die ihnen durch das Martinshorn einen Grillabend versaut? Schon einmal überlegt, dass der Weg vom ,gestörten’ Anwohner zum ,störenden’ Einrichtungsbewohner sehr, sehr schmal ist? Ein Herzinfarkt, ein Schlaganfall, ein Motorradunfall, eine neurologische Erkrankung und alles ändert sich.“

„Überschrift war reißerisch“

Reagiert hat auch die Huntington-Selbsthilfe NRW. In ihrem Namen schreibt Richard Hegewald: „Die Huntington-Krankheit ist eine schlimme und seltene Krankheit. Menschen, die von ihr betroffen sind, verlieren nach und nach die Kontrolle über ihren Körper. Oft haben sie Überbewegungen, als wären sie betrunken. Das wird durch rapiden Schwund von Gehirnzellen verursacht, der auch zu Demenz und allgemeinem geistigen und körperlichen Verfall führt. Die Kranken können nicht mehr sprechen und müssen im Endstadium oftkünstlich ernährt werden. Diese Krankheit ist nicht heilbar. Zwei meiner Freundinnen haben diese Krankheit und werden seit Jahren in der Stiftung Volmarstein kompetent und liebe vollgepflegt. Jetzt mussten sie aus ihrer gewohnten Umgebung in Wetter in ein neues Heim umziehen. Sie können kaum verstehen, was mit ihnen passiert. Und manche können sich nicht andersausdrücken als mit lautem Klagen. Jeder, der einmal mit Demenzkranken zu tun hatte, weiß, wie schwer schon eine Umstellung des Tagesablaufs für sie ist. Ein solcher Umzug ist das noch viel mehr. Umso trauriger finde ich die reißerische Überschrift in ihrem Artikel (Schreie aus Heim: ,Als wenn ein Mensch abgeschlachtet würde’). Er trägt nicht dazu bei, das gegenseitige Verständnis für die Anwohner und die Kranken zu fördern. Ich glaube an das Miteinander von Kranken und Gesunden, auch wenn es manchmal Probleme zu bewältigen gibt.“