Hagen. Alon Sander spricht vor Schülern des Fichte-Gymnasiums. Eine Begegnung, die Vorurteile wegräumt, aber auch Schmerzhaftes beleuchtet.
Allein einen Menschen mit Kippa vor sich stehen zu sehen, ist neu für die Schüler. Gerade in dieser Stadt, in der - wenn man mit Mitgliedern der jüdischen Gemeinde spricht - kein Jude es wagt, mit der traditionellen Kopfbedeckung auf die Straße zu gehen. „Ich habe immer gesagt, dass es Grund wäre, dieses Land zu verlassen, wenn ich es mich nicht mehr traue, mit der Kippa rauszugehen“, sagt Alon Sander.
Er hat dieses Land nicht verlassen. Und trotzdem sagt er: „Ich würde damit gleich nicht durch Hagen laufen.“ Im Rahmen des Antisemitismus-Projekts „Unter einem guten Stern“ hat die Redaktion zwei Religionskurse des Fichte-Gymnasiums mit einem jüdischen Menschen zusammengebracht, der im Dialog mit den jungen Menschen vor allem an eines appelliert: an die Menschlichkeit.
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Was wissen wir über Juden
Hand aufs Herz: Was wissen wir über Juden? Verstehen wir ihre Herkunft, ihre eigene Sicht auf ihre eigene Geschichte, die zwischen dem Mittelmeer und Mesopotamien begann? Kennen wir ihre Konflikte, die Motive ihrer Feinde und mehr noch: den Ursprung von Antisemitismus? „Schon die alten Griechen haben die Juden nicht verstanden“, erklärt Alon Sander den Schülern. Er ist jüdischer Vorsitzender der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im Siegerland, Journalist, Dokumentarfilmer. Und eben: Jude. Er war maßgeblich an der dreiteiligen Doku-Reihe „Schalom und Hallo - Eine Reise durch 1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte“ beteiligt.
Der 56-Jährige ist lebenserfahren. Und ebenso geübt in Situationen, in denen er über das Jude-Sein spricht. Und doch ist er nun nervös. „Ich spreche zum ersten Mal frei über mich selbst“, sagt er. Und besonders interessant wird es für ihn in den nächsten zwei Stunden sein, auch vor Schülern mit muslimischem Hintergrund zu sprechen, die aus der eigenen Sozialisation heraus eigene Bilder und Gedanken über Juden mitbringen.
„Es ist für mich auch anders als bei der Homophobie zum Beispiel. Denn hier geht es ja nicht um eine Neigung oder Haltung. Hier geht es darum, den Menschen als Ganzes zu hassen, weil er Jude ist. Und immerhin: Jeder Fünfte soll antisemitische Vorstellungen haben“
Sander spricht über die Entstehung des Judentums. Über das Selbstverständnis, „from the tribe“ zu sein, wie die amerikanischen Juden zu sagen pflegen. Als Menschen eines Stammes, deren Erzväter Abraham und Isaak waren. Er spricht über koscheres Essen, den alltäglichen und technischen Umgang, Milch und Fleisch getrennt zu essen, wo man koscheres Essen im Netz bestellt und vor allem über Stereotype in den Köpfen von Menschen. Die Hakennasen, die kleinen Männer, die Glatzen, der Reichtum, die Wucherer, die Hinterlistigkeit, die Weltverschwörer, die, die in Hinterzimmern das Weltgeschehen ganz entscheidend beeinflussen.
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„Jeder Zwölfte will dich tot sehen“
„Im Ernst: Wir sind 16 Millionen Juden auf der Welt“, sagt Alon Sander, der im Alter von 23 Jahren von Israel zum Studieren nach Deutschland kam und sich hier später verliebte und blieb. 16 Millionen sind nicht mal 0,2 Prozent der Weltbevölkerung. „Und trotzdem“, so erklärt es Alon Sander nach eigenen Recherchen über den Anstieg antisemitischer Straftaten und Haltungen in Deutschland und weltweit, „will dich jeder Zwölfte tot sehen, weil er Juden so hasst, dass er ihnen nur das wünscht. Es ist für mich auch anders als bei der Homophobie zum Beispiel. Denn hier geht es ja nicht um eine Neigung oder Haltung. Hier geht es darum, einen Menschen an sich zu hassen, weil er Jude ist, was angeboren ist. Und immerhin: Jeder Fünfte soll antisemitische Vorstellungen haben.“
Für diese für Sander schon Jahrtausende vor dem Nationalsozialismus verankerte Gegen-Juden-Haltung bräuchten Antisemiten keine Logik. „Für Antisemiten muss es keinen Sinn machen. Alles, was man sagt, ist der Beweis für das Gegenteil. Die Welt - und gerade das Internet - sind voll damit. Es hat sogar Menschen gegeben, die ganz offiziell erklären wollten, dass Juden für den schlimmen Tsunami 2004 im Indischen Ozean verantwortlich waren. Absurd, aber in der Welt von Antisemiten real.“
Das Kindermörder-Motiv
Die wohl weitverbreitetste antisemitische These sei, dass Juden Kindermörder seien. „Versteht ihr, was das für ein Bild ist?“, fragt Sander die Schüler. „Kinder, das Schutzloseste, das es gibt, sollen von Juden getötet werden. Wer das verbreitet und verfestigt, der kränkt jüdische Menschen nicht nur. Er dehumanisiert sie. Er nimmt ihnen die Menschlichkeit. Dann sind sie nur noch Bestien.“
Das Narrativ der „Kindermörder Israel“ ist bei Social Media so stark verbreitet wie Katzen-Videos. Mal kommt es einem in vermeintlich journalistischer Berichterstattung entgegen. Mal in irgendwelchen Grafiken, die angebliche Opferzahlen im Nahost-Konflikt gegenüberstellen. Das fixe Weiterleiten eines durch und durch antisemitischen Inhalts passiert heute per „klick and swipe.“ Dazu, wie man das erkennt, bewertet oder unterbindet, wird es in dieser Serie auch noch gehen.
„Manchmal kann ich nicht mehr. Manchmal bin ich mittags schon müde. Meine Frau, die keine Jüdin ist, sagt, ich soll damit aufhören, bestimmte Dinge zu lesen oder zu suchen. Aber das kann ich nicht. Ich sehe und spüre so viel Antisemitismus, und das macht krank. Jüdische Religion und Kultur hin oder her, es gibt mehr Gemeinsames als Trennendes“
Das kann bis zu diesem Punkt ein depressives, ein melancholisches Bild des Besuchs von Alon Sander am Fichte-Gymnasium zeichnen. Das ist er aber nicht. Denn der Dialog zwischen ihm und den Schülern hat so viel Konstruktives, dass die Stereotype nach Minuten verblassen, die Distanz der Nähe weicht, das Fremde dem Interesse. „Der Jude“, der gerade ins Klassenzimmer kam, ist nun ein Typ aus dem Siegerland, ein Familienvater, ein Journalist.
„Manchmal kann ich nicht mehr. Manchmal bin ich mittags schon müde. Meine Frau, die keine Jüdin ist, sagt, ich soll damit aufhören, bestimmte Dinge zu lesen oder zu suchen. Aber das kann ich nicht. Ich sehe und spüre so viel Antisemitismus und das macht krank. Dabei will ich und wollen so viele Juden nur eins: Verständigung, Zusammenleben und Frieden. Judentum ist eine Religion neben vielen. Nichts weiter.“
Sander erzählt stolz, wie er gemeinsam mit der palästinensischen Gemeinde in Siegen einen Protestmarsch gegen die AfD organisiert hat. Juden und Palästinenser Seite an Seite. Entscheidender Satz in diesem Zusammenhang: „Zur Anerkennung des Leides auf beiden Seiten.“ Viel Kopfnicken ist im Klassenraum zu sehen. Denn das ist, was am Ende bleibt. Nicht Israel gegen Palästina, die Juden gegen den Rest. Nein, Menschenleben.
Ein Austausch auf Augenhöhe
Die Schüler sind zum einen gut vorbereitet, zum anderen sehr interessiert. Besonders widmen sie sich bei ihren Fragen der Angst von Juden, sich im öffentlichen Leben erkennen zu geben. Niemand spricht über den Nahost-Konflikt, das ist auffällig. Sehr interessiert und vielfragend zeigen sich Schüler, die muslimischen Hintergrund haben. Es findet im Gespräch echter Austausch statt über Alltagsgepflogenheiten, religiöse Riten, Anschauungen. „Wir sind normal. Ich bin normal. Wir sind Menschen.“
Seiner Tochter versucht Alon Sander jüdische Werte und Traditionen mitzugeben. Zu erkennen gibt sie sich als Tochter eines jüdischen Mannes in der Schule übrigens nicht. Überdies gilt nach jüdischen Gesetzen, diejenige Person als jüdisch, die eine jüdische Mutter hat - und die hat sie nicht. In Siegen - er lebt in der Nähe - würde er übrigens mit einer Kippa durch die Straßen laufen. „Dort kenne ich die Lage, die sicheren Orte und den Kontext der Stadt. In Hagen würde ich es für zu gefährlich halten.“
Das habe nicht mit unterschiedlichen Kulturen und Nationalitäten zu tun, sondern mit der gefährlichen Lage für Juden im Allgemeinen. Wie gefährlich die aus Sicht der Polizei übrigens ist, wird diese Serie auch noch aufgreifen.