Gevelsberg. Jahrelang im türkischen Gefängnis, HIV beim Tätowieren: Vor Gericht gibt’s Einblicke ins Leben eines mutmaßlichen Messerstechers aus Gevelsberg.
Der Prozess rund um die Messerstecherei in der Flüchtlingsunterkunft An der Drehbank in Gevelsberg Anfang Juli 2021 schreitet voran. Und nach wie vor äußert sich der Angeklagte nicht zu den Vorwürfen, die ihm gemacht werden.
In der Verhandlung vor dem Hagener Schwurgericht hat es am Montag dafür Einblicke in sein Leben vor der Tat gegeben, die ihm die Anklage vorwirft. Zur Erinnerung: Der 39-Jährige aus der Türkei soll den heutigen neuen Lebensgefährten seiner Ex-Partnerin und Noch-Ehefrau mit einem Küchenmesser zu töten versucht haben. Die Frau habe aus Angst vor dem Angeklagten mit ihren beiden Kindern bei dem Opfer in dessen Zimmer in der Unterkunft An der Drehbank übernachten wollen, wie es sich nach mehreren Zeugenaussagen darstellt.
Der Geschädigte, ein ebenfalls 39-jähriger Türke, soll nur überlebt haben, weil er den Angriff mit der 19 Zentimeter langen Messerklinge zumindest zum Teil noch abwehren konnte.
Frage der Schuldfähigkeit
Was das Gericht im Zuge des Prozesses unter anderem versucht zu klären, ist die Frage der Schuldfähigkeit. Der Angeklagte soll psychisch krank sein. Wie die Redaktion auf Nachfrage am Hagener Landgericht schon im Vorfeld erfahren hatte, wurde er bereits in anderen Verfahren für schuldunfähig erklärt.
Die Aussagen einer früheren Bewährungshelferin und eines Sachverständigen sollten am Montag zur Klärung dieser Frage beitragen. Die Bewährungshelferin hatte den Beschuldigten nach eigenen Angaben vor ein paar Jahren betreut, als dieser zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung und 150 Stunden gemeinnütziger Arbeit verurteilt worden sei. Sozialstunden, die er nie abgeleistet haben soll.
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„Zu Beginn der Betreuung war schnell klar, dass er viele Probleme hat“, fängt die 57-Jährige an, zu erzählen. Sie spricht von einer HIV-Infektion und davon, dass der Angeklagte depressiv gewirkt habe. „Er konnte sich im Grund schlecht auf andere Themen einlassen als auf seine Erkrankung“, so die Bewährungshelferin. „Ich habe einen Antrag auf gesetzliche Betreuung gestellt.“
Familie als Wendepunkt
Die Betreuerin, eine Rechtsanwältin aus Gevelsberg, habe die Betreuung aber sofort niedergelegt. Der Grund: Der Angeklagte soll unbetreubar sein. Ein anderer soll die Aufgabe daraufhin übernommen haben. Und auch die Bewährungshelferin bestätigt: „Er hat sich ganz schlecht auf die Betreuungssituation einlassen können, er war sehr unkonzentriert.“
Schuldunfähig oder eingeschränkt schuldfähig
Bei einer Schuldunfähigkeit sei der Angeklagte strafrechtlich nicht mehr zur Verantwortung zu ziehen. „Dann würde geprüft, ob er für die Allgemeinheit gefährlich ist“, hatte Gerichtssprecher Bernhard Kuchler vor Prozessstart gegenüber der Redaktion erklärt. „Falls ja, gäbe es eine unbefristete Unterbringung in einer forensischen Psychiatrie.“ Das Gesetz sieht für die Vorwürfe, die dem Angeklagten gemacht werden, in der Regel eine Freiheitsstrafe von drei Jahren bis 15 Jahren vor. Sollte dieser nur eingeschränkt schuldfähig sein, verringere sich der Strafrahmen auf geschätzt sechs Monate bis zu elf Jahren und drei Monaten.
Der 39-Jährige habe einen perspektivlosen Eindruck gemacht, da er aus seiner Sicht nicht mehr lange leben und keine Familie gründen könne. Er sei außerdem impulsiv und wenig kritikfähig gewesen. Die 57-Jährige berichtet von verbalen Bedrohungen gegenüber Mitarbeitern eines Rechtsanwaltsbüros.
Dann spricht sie von einem Wendepunkt im Leben des Angeklagten: Er habe geheiratet und sei schließlich doch Vater geworden. „Sein emotionales Leidempfinden hat sich mit Frau und Familie etwas gelegt“, so die frühere Bewährungshelferin. Seine Krankheit sei aber weiterhin prägnant und schwerwiegend für ihn gewesen.
Altes Gutachten verlesen
Der Sachverständige, der am Montag ebenfalls aussagen sollte, erklärte dem Gericht laut Aussage der Vorsitzenden Richterin Heike Hartmann-Garschagen, dass er mittlerweile zu alt sei, um zur Verhandlung zu erscheinen und sich auch nicht mehr an den Angeklagten erinnern könne. Die Bewährungshelferin stellte dem Gericht aber ein Gutachten des Sachverständigen zur Verfügung, das dieser im Jahr 2015 über den heutigen Angeklagten erstellt hatte, nachdem der 39-Jährige wegen verschiedener Delikte – die Rede ist von Bahn fahren ohne Ticket, Unfallflucht und Fahren ohne Führerschein – vor Gericht stand.
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Hartmann-Garschagen verlas dieses Gutachten, dass auch auf Angaben des Angeklagten selbst beruht. Daraus geht hervor, dass der 39-Jährige, der in der Türkei zur Welt kam, dort als Kurde Gewalt erfahren haben soll. Im Alter von rund 20 Jahren sei er für acht Jahre und vier Monate in ein türkisches Gefängnis gekommen, weil das Militär den Verdacht gehabt habe, er habe den Kurden in einer Auseinandersetzung geholfen.
Im Gefängnis soll er sich auch mit HIV infiziert haben – beim Tätowieren mit einer infizierten Nadel. Der Angeklagte sagt laut Gutachten von sich selbst, dass die Medikamente ihn kaputt machten, er wisse aber auch, dass sie wichtig seien. Der Sachverständige spricht in seinem Gutachten von einem depressiven Syndrom mit suizidalen Tendenzen und einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Störungen durch Infektion?
Außerdem ist die Rede von einer Persönlichkeits- und Verhaltensstörung, möglicherweise ausgelöst durch die Infektion mit dem HI-Virus. „Psychische Störungen treten bei HIV-Patienten häufiger auf“, zitiert die Richterin weiter aus dem Gutachten. Auch eine Aussage des Angeklagten: „Ich bin kein schlechter Mensch, ich habe nur viel Pech gehabt in meinem Leben.“
Der Gutachter kommt am Ende zur Schlussfolgerung einer eingeschränkten Schuldfähigkeit.