Duisburg/Dortmund. Ein neuer „Rockerkrieg“ könnte bevorstehen. Das Innenministerium nennt erstmals Zahlen zu den Überläufern. Die Hintergründe.

„Heult leise“ – das steht auf einer digitalen „Postkarte“ der Hells Angels an die konkurrierende Rockerbande Bandidos. Auf dem Foto, das die Bild-Zeitung am Dienstag veröffentlichte, sind 123 Hells Angels zu sehen, die vor einer Eventhalle in Duisburg-Hamborn brav posieren wie für ein Klassenfoto. Doch das Bild birgt Konfliktpotenzial, könnte dazu beitragen, dass die Dauerfehde zwischen den beiden Gruppen umschlägt in einen neuen Rockerkrieg mit Morden und Schießereien. Denn der Gruß stammt von „Abtrünnigen“.

Was ist passiert?

Ende Oktober sollen Dutzende Bandidos aus NRW übergetreten sein zu den Hells Angels. Über 20 Ortsvereine der Bandidos, „Chapter“ genannt, sollen die Seiten gewechselt haben. Einzelne Wechsel und Fusionen gab es zwar schon öfter, aber die Größenordnung ist neu.

Das Landeskriminalamt (LKA) hatte bereits damals den Wechsel bestätigt, aber keine Zahlen genannt. Nach Informationen aus der Szene kursierte die Zahl von 250 Überläufern. Doch es könnten auch weniger gewesen sein. Nun, Mitte November, schreibt das Innenministerium in einem vertraulichen Bericht von 150 Bandidos, die zu den Hells Angels gewechselt seien. Darunter seien auch „ehemalige Führungspersonen“ aus der deutschen und europäischen Ebene der Bandidos, heißt es in dem vertraulichen Bericht an den Landtag, über das zuvor die „Neue Westfälische“ berichtet hatte.

Die Bandidos in NRW wurden 2021 verboten, „Nachfolgeorganisationen“ sind nicht festgestellt worden. Doch tatsächlich scheinen die ehemaligen Bandidos informell weitergemacht haben. Sogar auf der europäischen Homepage der Motorradgang sind die verbotenen Chapter weiterhin gelistet, nur eben mit dem Zusatz „prohibited“ – samt eigenem Kontaktformular.

Vor dem Verbot gab es 30 Chapter in NRW mit etwa 370 Mitgliedern. Die Überläufer machen also rund zwei Drittel der alten Belegschaft aus. Die Hells Angels dagegen haben sich mehr als verdoppelt.

„Offiziell“ sind in NRW aktuell laut LKA rund 900 Rocker aktiv in den sogenannten „Outlaw-Motorcycle-Gangs“ („gesetzlose Motorradbanden“). Die ehemaligen Bandidos und Neu-Hells-Angels sind darin nicht enthalten. Die größte Gruppe stellen nach dem letzten „Lagebild Organisierte Kriminalität“ weiterhin die Freeway Riders mit rund 440 Mitgliedern, gefolgt von den Hells Angels, die 2023 nur rund 150 Mitglieder und zwölf Ortsvereine hatten. Ihre Zahl hat sich nach den neuesten Informationen verdoppelt. Der Gremium MC (170), Brothers MC (60) und Outlaws MC (45) sind nun wesentlich kleiner.

Welches Konfliktpotential sehen Experten?

Das Landeskriminalamt ist alarmiert. Eine offizielle Bewertung möchten die Experten jedoch nicht abgeben. Die Lage werde beobachtet, sei aber volatil. Die Motorradgangs sind unter anderem vertreten im Drogenhandel und im Rotlichtmilieu, wo es Gebietsansprüche zu sichern gilt. Wenn es Verschiebungen solchen Ausmaßes gibt, kann es natürlich zu Verteilungskämpfen kommen – zwischen den Rockern, aber auch mit konkurrierenden Gruppen, etwa den ethnisch organisierten Clans oder der niederländischen und belgischen „Mocro-Mafia“, die in den deutschen Markt dringt. Auch diese „finanziellen Interessen“ stehen, neben der Club-Folklore, hinter den Angriffen, denen vor allem „Überläufer“ oft ausgesetzt sind.

Ein erstes Opfer gab es offenbar bereits: Am 27. Juli wurde der Rocker Orhan A. (53) in Dortmund vor einem Fitnessstudio angeschossen. Er soll kurz zuvor mit drei Dutzend anderen Rockern von den Bandidos zu den Hells Angels übergetreten sein. Fünf Kugeln trafen den 53-Jährigen. Er überlebte nach einer Notoperation. Experten werteten die Attacke als „Warnung“. Doch offenbar wurde der Deal dennoch durchgezogen – in einem Umfang, der damals für Außenstehende nicht abzusehen war.

Wo im Ruhrgebiet schlägt sich das nieder?

Während die Hells Angels bislang vor allem auf der Rheinschiene aktiv waren, von Duisburg bis Köln, war das Ruhrgebiet vor allem Bandidoland, allerdings gab es auch Ausnahmen und Überschneidungen. Entsprechend befinden sich die meisten nun übergelaufenen Chapter in der Region.

Als größtes Rotlichtviertel in der Region steht die Duisburger Vulkanstraße besonders im Fokus. Hier gaben bis zu ihrem Verbot die Bandidos den Ton in der Türsteherszene an. Heute sollen hier Clans aus Rumänien und Bulgarien mitmischen. Vor diesem Hintergrund könnte auch der Ort des aktuellen Hells-Angels-Gruppenfotos in Duisburg-Hamborn bedeutsam sein. Dort prügelten sich vor zweieinhalb Jahren mehr als 100 Hells Angels und Clan-Mitglieder auf dem Altmarkt. Zwischen den Passanten schossen sie aufeinander.

Vor dem Bandidos-Lokal „The Fat Mexican“ im Rotlichtviertel hatte 2009 der Hells Angel Timur A. den Bandido „Eschli“ erschossen, angeblich aus Eifersucht. Schon zuvor befehdeten sich die beiden Gruppen, 2007 wurde in Ibbenbüren ein Hells Angel von Bandidos ermordet. Danach gab es zahlreiche gegenseitige Anschläge.

2014 wurde der Duisburger Hells Angel Kai M. von den eigenen Leuten getötet und zerstückelt, weil er Geschäftsgeheimnisse verraten haben soll. Sein tätowierter Arm und sein Torso wurden später im Rhein gefunden. Der Haupttäter Ramin Y. flüchtete in den Iran, soll dort für die Revolutionsgarden gearbeitet haben und kam unter mysteriösen Umständen ums Leben. Er soll zuvor Vizechef der Hells Angels Oberhausen gewesen sein. Dort war 2013 die Rotlichtmeile Flaßhofstraße umkämpft, Bandidos und Hells Angels schossen aufeinander. Der Boss der Bandidos (und von Ramin Y.) war zuvor zu den Hells Angels übergelaufen.

Hat das Vereinsverbot der NRW-Bandidos zum aktuellen Wechsel geführt?

„Der massenhafte Übertritt hat mich nicht verwundert“, sagt Rocker-Experte Michael Ahlsdorf: „Es war definitiv das Verbot. Die Leute sind ja noch da. Und sie haben nach wie vor das Bestreben in Gemeinschaft zu existieren und als solche aufzutreten. Dass sie Wege suchen würden, war völlig klar.“ Es kommt hinzu: „Die Hells Angels haben eine viel längere Erfahrung im Umgang mit Verboten.“

Rocker-Experte Michael Ahlsdorf war Chefredakteur des Magazins Bikers News und hat ein Buch darüber verfasst: „Auf heißem Stuhl im Rockerkrieg“.

„Heute telefoniert man viel, bevor man eine Ortsgruppe übernimmt und verhandelt das.“

Michael Ahlsdorf

Ahlsdorf weiß, wovon er spricht. Ab 1999 war er Chefredakteur des Rockermagazins Bikers News und saß somit „Auf heißem Stuhl im Rockerkrieg“ – so der Titel seines jüngsten Buches. „Man muss festhalten: Wir reden von Clubs und Zugehörigkeiten, die nach dem Vereinsverbot gar nicht mehr existieren dürften. Offenbar hat das Verbot also nicht gewirkt.“

Könnte es sich also um eine Fusion handeln, die für beide Seiten vorteilhaft ist?

„Es kann immer alles passieren“, sagt Ahlsdorf. Aber offen ausgetragene Konflikte befürchtet der durch den „Rockerkrieg“ in den Nuller- und Zehner-Jahren gestählte Journalist nicht. „Die beiden Gruppen sind schon so viele Jahre miteinander im Dialog. Übertritte gab es schon öfter, und diese geschehen nicht überraschend. Heute telefoniert man viel, bevor man eine Ortsgruppe übernimmt und verhandelt das.“

Zudem soll es sich, auch nach den Kenntnissen von Ahlsdorf, um überwiegend junge Biker handeln, die übergetreten sind, „nicht um die alte Garde“. Sie sollen überwiegend einen türkischen oder arabischen Hintergrund haben. Es habe in der Vergangenheit schon Versuche der „Altrocker“ gegeben, diese Gruppe loszuwerden, erklärt Ahlsdorf.

Der Experte hält es für möglich, dass Bandidos und Hells Angels mit dem Coup eine Win-Win-Situation geschaffen haben. „Das letzte Wort zum Thema könnte sein, dass der Rechtsstaat ausgetrickst wurde.“

Sind das nicht einfach Nachfolgeorganisationen?

Damit steht im Raum, ob es sich bei den neuen Hells-Angels-Chartern rechtlich gesehen um Nachfolgeorganisationen der verbotenen Bandidos-Vereine handelt. „Das wäre eine Frage, die die Juristen klären müssten“, sagt Ahlsdorf. Tatsächlich sind solche Fragen kompliziert, denn vor Gericht müsste nachgewiesen werden, dass Personen, Gebiet und Organisation weitgehend identisch sind. Das könnte natürlich der Fall sein, wenn aus einem verbotenen Dortmunder Bandidos-Chapter Metropol einfach so das Hells-Angels-Charter „Steel Side Dortmund City“ wird.

Nach Informationen der Bild-Zeitung soll der ehemalige Dortmunder Bandidos-Boss Elvedin M. auch eine treibende Kraft hinter dem Massenwechsel sein. Schon vor zwei Wochen hatten die neuen Hells Angels mit einem Gruppenfoto aus Dortmund provoziert. Die verbliebenen Bandidos revanchierten sich in den Sozialen Medien mit einer Fotomontage, die Elevedin M. im rosafarbenen Ballettkleid zeigt. Das neue Gruppenfoto aus Duisburg mit der Aufforderung „Heult leise“ lässt sich so auch doppeldeutig verstehen: als erneute Provokation oder als Machtwort, leiser aufzutreten – denn zu viel Öffentlichkeit schadet dem Geschäft.