Dortmund. In einer Umfrage berichten Mediziner von aggressiver Stimmung, Drohungen und eingetretenen Türen. Warum sie daran denken aufzugeben.
Sie kommen, weil sie krank sind und Hilfe brauchen. Aber dann treten die Patienten ihrem Arzt die Tür ein, schmeißen mit Möbelstücken, bedrohen ihn und seine Familie, schlagen ihn sogar zusammen. Die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) hat ihre Mitglieder nach solchen Erfahrungen gefragt, mit diesen Antworten aber nicht gerechnet. Die wachsende Gewalt, hieß es am Montag in Dortmund, „gefährdet die ambulante Versorgung“.
Der Patient war schon länger im Sprechzimmer der Notfallpraxis, da hörten die Arzthelferinnen „Tische und Stühle fallen“: Der Mann hatte den Mediziner niedergeschlagen, traktierte ihn weiter, als er schon am Boden lag. Nur gemeinsam konnten die Frauen den Schläger aus dem Behandlungsraum drängen, der Notarzt musste selbst zum Notarzt. So geschehen im Ruhrgebiet, für Dr. Dirk Spelmeyer als Vorstandsvorsitzenden der KVWL „das bitterste Beispiel“ aus der jüngsten Blitzumfrage.
Druck und Gewalt: Arzthelferinnen ergreifen die Flucht
Mehr als 760 Ärztinnen und Ärzten in Westfalen-Lippe haben in der ersten Septemberwoche auf die Frage geantwortet, wie schlimm es bestellt sei mit physischer und psychischer Gewalt in den Praxen. Knapp ein Viertel erklärte, „aufgrund von verbaler oder körperlicher Gewalt“ schon einmal darüber nachgedacht zu haben, die eigene Praxis aufzugeben. „Einige Kollegen überlegen offenbar“, so Spelmeyer: „Wie lange tue ich mir das noch an?“ 18 Prozent, also fast ein Fünftel, beantwortete die Frage, ob es unter diesen Umständen schwieriger geworden sei, Personal zu finden, mit Ja.
Das passt zu einer Erhebung aus dem Frühjahr 2024, nach der gut zwei Drittel von mehr als 4000 befragten Medizinern gesagt hatten, dass sie für Notfalleinsätze die Begleitung eines Fahrdienstes bevorzugen würden – weil mehr als ein Drittel schon einmal in einer brenzligen Situation war. Und dann froh, nicht allein zu sein. Offenbar sind von Gewalt besonders die mehr als 90 Notfallpraxen betroffen, die vor allem abends und in der Nacht aufgesucht werden.
Aber auch die Hausärzte klagen in der Umfrage, dass der allgemeine Umgang zunehmend von Respektlosigkeit geprägt sei. Von „Beschimpfungen und körperlichen Angriffen“ erzählten Allgemeinmediziner in den offenen Textfeldern der Umfrage, von „zerstörtem Praxismobiliar“, zerstochenen Reifen am Auto und einem Kollegen, der vor seinen eigenen Patienten floh. Von immer mehr Menschen, heißt es bei den Kassenärzten, werde „Druck ausgeübt, wenn sie nicht sofort bekommen, was sie wollen“. Das geht so weit, dass Drohungen ausgestoßen werden, auch gegen die Familie, die Kinder von Medizinern. Aus dem Norden NRWs berichtet eine Ärztin, wie ihr Chef einen Mann ins Krankenhaus einliefern ließ, wo dieser später starb. Der Sohn stürmte daraufhin die Praxis, bedrohte den Kollegen: „Ich bring dich um!“
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Die Allgemeinmedizinerin Anne Greiwe aus dem münsterländischen Rheine schrieb ihren Patienten kürzlich einen offenen Brief: Von „lautstarken Forderungen“ ist darin die Rede, von Menschen, die „rücksichtslos sind, oft beleidigend und mit juristischen Konsequenzen drohen“. Sie habe das getan, nicht um anzuklagen, sondern um sich „bei den netten Patienten zu bedanken“, sagt die Ärztin am Montag in Dortmund. Als Reaktion seien letztere mit Karten und Geschenken gekommen, einige, die sich angesprochen fühlten, seien danach weggeblieben. Viele Menschen seien nach Corona auch wieder entspannter geworden, aber, auch das sagt Greiwe: „Nicht bitte, nicht danke, Respektlosigkeiten erleben wir jeden Tag.“
Arzt beklagt: „Die Stimmung ist schlechter geworden. Es gibt wenig Respekt“
Insgesamt, das bestätigt Dr. Volker Schrage, Vorstandsvize der KVWL, sei „die Stimmung deutlich schlechter geworden. Die Menschen sind fordernder, es gibt wenig Respekt“. Warum das so ist, dazu sagt die KVWL indes nichts; verweist aber auf Rettungsdienste und Sicherheitskräfte, die eine ähnliche gesellschaftliche Entwicklung beklagen.
Für den Verband ist das Phänomen damit „an einem Level angekommen, das die ambulante Versorgung gefährdet“. Nicht nur weil Ärzte ihre Praxen womöglich schließen, sondern weil sie auch ihre Medizinischen Fachangestellten (MFA) verlieren. Gleich drei gingen in Greiwes Gemeinschaftspraxis von der Fahne, „weil sie so viel Druck und Frust“ abbekamen; aus demselben Grund muss auch Schrage auf zwei langjährige Mitarbeiterinnen verzichten.
Die Kassenärztliche Vereinigung bittet die Politik um Hilfe, ist aber auch selbst aktiv geworden: „Wir als Arbeitgeber müssen für die Sicherheit sorgen.“ In vielen Notfallpraxen sei Sicherheitspersonal eingestellt worden, es gebe Konflikttrainings und Notruf-Schulungen. Für MFA seien Parkplätze in der Nähe eingerichtet worden, in der dunklen Jahreszeit müssten Mitarbeiterinnen teilweise nicht mehr allein zu ihrem Auto gehen“. Auch Ärztin Greiwe kann sich an einen Fall erinnern, in dem das nötig war: Es ging um das Rezept für ein Betäubungsmittel, das sie nicht ausstellen wollte. „Ich wurde zum Auto begleitet.“