Balve/Menden. Was es heißt, Bereitschaftspflegeeltern zu sein: Ein Kind aufnehmen und Liebe geben. Westfalenpost besucht Martina und Jürgen.
Es ist 1.30 Uhr nachts, das Telefon klingelt. Jürgen (*) springt aus dem Bett, Martina (*) folgt ihm. Am anderen Ende der Leitung ist das Jugendamt. Ein vierjähriges Mädchen wurde allein angetroffen. Können Martina und Jürgen es aufnehmen? Natürlich können sie. Sie ziehen sich an, bereiten alles vor, für das fremde Kind, das jetzt unterwegs zu ihnen ist.
Martina und Jürgen sind Bereitschaftspflegeeltern, noch dazu in besonderer Bereitschaft, wie es beim Jugendamt heißt. Das bedeutet, dass sie an sieben Tagen in der Woche 24 Stunden erreichbar sind. Die Westfalenpost meldet sich zu einem Besuch bei Martina und Jürgen an, um zu erfahren, wie man dazu kommt, solch eine Verantwortung zu übernehmen und was das im Alltag bedeutet.
Weit raus ins Ländliche
Es geht weit raus ins Ländliche zu Martina und Jürgen. Geradezu idyllisch gelegen ist das Wohnhaus. Jürgen öffnet die Tür, Martina sitzt in der gemütlichen Küche. Mit ihr am Tisch Alessia Mariotti, Fachberaterin für die Bereitschaftspflegefamilien der Stiftung Evangelische Jugendhilfe Menden. Sie schaut regelmäßig in den Familien vorbei und ist ihr ständiger Ansprechpartner.
„Klar war, dass ich meinen Job dafür kündigen würde.“
Martina und Jürgen sind die klassische Patchwork-Familie, haben sich 2016 kennengelernt und zusammen fünf Kinder. „Als diese aus dem Gröbsten raus waren und auszogen, war das Haus so leer“, berichtet Jürgen. „Eines Tages habe ich meiner Frau den Flyer über den Tisch geschoben, mit dem die Stiftung Pflegefamilien suchte.“ „Ist das dein Ernst?“, war ihre erste Antwort. Gemeinsam überlegten sie in den nächsten Tagen, was das bedeuten und ob sie es sich zutrauen würden. „Klar war, dass ich meinen Job dafür kündigen würde. Aber in dem war ich seit Corona eh nicht mehr glücklich. Ich war nur noch im Homeoffice, mir fehlte das Zwischenmenschliche einfach.“
„Der Ukraine-Krieg war gerade ausgebrochen. Wir wollten helfen. Aber Flüchtlinge aufzunehmen, ging durch die Wohnsituation nicht“, blickt die 43-Jährige zurück. Zwei Zimmer waren frei, die Entscheidung schnell getroffen und die Jugendhilfe wurde kontaktiert. Die kam dann recht schnell zu ihnen. Alessia Marotti erklärt: „Wir fahren zu den Familien, lernen sie kennen, schauen uns die Wohnsituation an. Denn ein eigenes Zimmer für die Pflegekinder muss schon vorhanden sein.“ Auch ein polizeiliches Führungszeugnis aller im selben Haus Wohnenden muss vorgelegt werden. Sowieso muss die gesamte Familie hinter dieser Entscheidung stehen. Bei Martinas und Jürgens Kindern war das Einverständnis sofort da.
Vorbereitung auf die Aufgabe
Wenn das alles passt, bereitet die Jugendhilfe die zukünftigen Pflegeeltern auf ihre nicht einfache Aufgabe vor, neben all den bürokratischen Aufgaben, gilt es auch die besondere Situation der Kinder zu verstehen und zu wissen, welche Auffälligkeiten sie mitbringen könnten. Und zu lernen, wie man damit umgeht.
„Ich dachte ja, nachdem alles geregelt war, dass es ewig dauern würde, bis ein Kind zu uns kommt“, erinnert sich Jürgen. Dem war nicht so. Nur kurze Zeit später kam der erste Anruf der Jugendhilfe und somit das erste Kind. Und wie reagierte das Umfeld? „Die meisten öffnen ihre Türen. Aber ich hatte auch eine Bekannte, die fragte: ,Warum tust du dir das an?‘ Von ihr habe ich mich in der Folge distanziert“, erzählt Martina.
„Wenn du hier wegläufst, dann brauchst du Tage bis zum nächsten Mc Donalds.“
Und was „tut man sich an“? „Ja, man gibt wieder etwas auf. Man ist eine offene Familie. Man muss alles absprechen. Die leiblichen Eltern müssen allem zustimmen, ob es die Mitgliedschaft im Sportverein, Arztbesuche, Kita-Anmeldung oder der Friseurbesuch ist. Aber darum kümmert sich die Jugendhilfe, mit denen sind wir im ständigen Kontakt“, erläutert Jürgen.
Das Gespräch unterbricht Jonas (*). Der Vierjährige stürmt in die Küche und klettert bei Martina auf den Schoß. „Mama, darf ich Schokolade?“, himmelt er sie an. Jonas ist seit Februar bei Martina und Jürgen. Und sagt Mama? „Ja, seit er im Kindergarten ist. Dort haben ihn andere Kinder gefragt, warum er Martina zu mir sagt. Seitdem bin ich immer öfter Mama.“
Mama auf Zeit. Denn Martina und Jürgen haben sich dazu entschieden, Bereitschaftspflegeeltern zu sein. Im Unterschied zu Dauerpflegeeltern bleiben bei ihnen die Kinder nur, bis sie entweder zu den leiblichen Eltern zurückkönnen oder eben Pflegeeltern auf Dauer gefunden worden sind.
Pflegefamilien gesucht
Die Stiftung Evangelische Jugendhilfe Menden ist im Auftrag der Jugendämter im Märkischen Kreis weiterhin auf der Suche nach Pflegefamilien.
In krisenhaften Situationen können Eltern manchmal ihre Kinder nicht gut selbst versorgen. Für diese Fälle werden dort dringend Pflegefamilien gesucht und gut auf ihre Aufgabe vorbereitet.
Interessierte Paare, Familien oder auch Singles, die Freude und Erfahrung im Zusammenleben mit Kindern haben und sich zeitweise die Betreuung eines Pflegekindes im eigenen Zuhause vorstellen können, können sich aus erster Hand informieren.
Fachberaterinnen aus der Pflegekinderhilfe geben am Montag, 2. September, um 18 Uhr in den Räumen der Stiftung Evangelische Jugendhilfe in Menden- Platte Heide einen Einblick in ihre Arbeit. Sie berichten über Voraussetzungen und Rahmenbedingungen und beantworten alle Fragen zu dem Thema.
Bei Interesse bittet die Stiftung Evangelische Jugendhilfe Menden um eine kurze Anmeldung unter 𝟬𝟮𝟯𝟳𝟯 𝟯𝟵 𝟱𝟭𝟴 𝟯𝟱 oder
per E-Mail an: bp@ev-jugendhilfe-menden.de
Weitere Informationen zum Angebot findet man auch auf der Homepage www.ev-jugendhilfe-menden.de
Wie gestaltet sich das Leben mit einem Kind, das nicht das eigene ist, das vielleicht traumatisiert ist? „Das ist immer unterschiedlich“, erklärt Jürgen. „Wir hatten einen fünfjährigen Jungen hier, der nur über Weihnachten und Silvester geblieben ist. Er war schwierig, wollte nicht hierhin. Er ist erstmal gar nicht aus dem Auto gestiegen, und als er dann im Haus war, wollte er immer weg. Da bin ich mit ihm ans Fenster gegangen und habe gesagt: ,Guck mal, hier ist weit und breit nichts. Wenn du hier wegläufst, dann brauchst du Tage bis zum nächsten Mc Donalds.‘ Und das hat ihn wohl überzeugt. Denn danach war Weglaufen keine Option mehr. Und obwohl er nur so kurz hier war, ihn trage ich noch immer im Herzen.“
Jonas findet Sicherheit
Jonas ist seit Februar bei Martina und Jürgen. Seine Mutter bekam ihr Leben nicht in den Griff, sodass die Entscheidung getroffen werden musste, ihn in andere Hände zu geben (siehe Zweittext). Inzwischen hat er viele Ängste abgelegt, hat Vertrauen gefunden und findet Sicherheit bei Erwachsenen. Vorher hatte er zu viele Enttäuschungen von denen erlebt. „Seine größte Angst war das Alleinsein“, erinnert sich Martina. „Wenn er nachts wach wurde, hat er sich an mich geklammert, wollte mich nicht mehr loslassen. Wir haben ihm versprochen, dass er nicht allein ist. Inzwischen gilt die Verabredung, dass wir uns einmal in den Arm nehmen und fest drücken und dann wieder schlafen gehen.“ Das klappt meistens ganz gut. „Aber ich muss am Abend immer daran denken, meine Sachen aus dem Schrank zu nehmen. Denn es kommt immer mal wieder vor, dass er am Morgen zwischen Bett und Schrank auf dem Boden liegt. Weil er das Alleinsein eben doch nicht ausgehalten hat“, erzählt Jürgen.
„Jedes Kind, das wieder weggegangen ist, hat irgendwie auch etwas mitgenommen.“
Und was ist, wenn für Jonas Dauerpflegeeltern gefunden werden? Durch die Jugendhilfe wird dieser Prozess begleitet. Das passiert nicht von heute auf morgen, sondern erstmal stundenweise. „Wenn der Tag des Abschieds gekommen ist, ist das natürlich schwer“, sagt Martina. „Vor allem, wenn ein Kind länger hier war. Da habe ich schon mal drei Tage geheult, aber dann ging es.“ Jürgen weiß eine andere Methode: „Als wir ein Kind abgegeben hatten, sind wir Kuchen essen gegangen. Danach haben wir Eis gegessen und dann noch mal Kuchen. Das hilft auch“, berichtet der 49-Jährige.
„Unsere Aufgabe und unser Ziel ist es, das Kind bestmöglich auf die Dauerpflegeeltern vorzubereiten. Und wenn man weiß, dass es dort gut aufgehoben ist, dann ist das ein gutes Gefühl“, erläutert Martina. Aber: „Jedes Kind, das wieder weggegangen ist, hat irgendwie auch etwas mitgenommen“, lässt Jürgen tief in seine Gefühlswelt blicken.
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Bis es bei Jonas so weit ist, freuen sich Martina und Jürgen über seine Entwicklung und genießen jeden Fortschritt. „Das sind die schönen und unbezahlbaren Momente dieser Aufgabe. Denn für Geld kann man das nicht machen. Wenn man das Pflegegeld auf 24 Stunden umrechnet, weiß man das auch“, erläutert Jürgen. Und als wollte Jonas zeigen, wie gut es ihm geht, beendet er unser Gespräch, indem er mit dem Ball in der Hand zu Jürgen kommt und ihn zum Fußballspielen abholt. In diesem Moment ist er ein ganz normaler, glücklicher Junge, der mit Papa draußen herumtobt.
Das vierjährige Mädchen kam übrigens nicht zu Martina und Jürgen. Der Fall nahm ein gutes Ende. Denn die Mutter hatte sich gemeldet, als sie bemerkt hatte, dass die Vierjährige sich nachts aus der Wohnung geschlichen hatte.
(*) Namen von der Redaktion geändert