Balve. Der Täter stammt aus dem familiären Umfeld. Noch Jahrzehnte später leidet sein Opfer unter Ängsten und Depressionen. Was der Frau hilft

Das, was ihnen zu schaffen macht, was sie und ihre Leben immer mal wieder komplett aus der Bahn wirft, sieht von außen niemand. Und doch begleitet es sie jeden Tag. Im Schutz der Selbsthilfegruppe sprechen sie über das, was zu manchmal schier unlösbaren Herausforderungen wird – ihre Ängste, ihre Depressionen. Die „Selbsthilfegruppe für psychisch und angstgestörte Menschen“ trifft sich regelmäßig im Evangelischen Gemeindehaus in Balve.

Angelika

Angelika (alle Namen von der Redaktion zum Schutz der Personen geändert) spricht nicht häufig über das, was sie und ihr Leben immer mal wieder aus der Bahn wirft. Als junges Mädchen wurde die heute 74-Jährige missbraucht. Es gab niemanden, der ihr half, niemanden, dem sie sich hätte anvertrauen können. Der Täter stammte aus dem familiären Umkreis. „Meine Mutter hätte mir nie geglaubt.“ Und so machte die kleine Kinderseele über Jahre alles mit sich selbst aus.

„Was hier besprochen wird, tragt bitte nicht nach draußen“: Das Schild erinnert die Teilnehmenden der „Selbsthilfegruppe für psychisch und angstgestörte Menschen“ an ihre Verschwiegenheit.
„Was hier besprochen wird, tragt bitte nicht nach draußen“: Das Schild erinnert die Teilnehmenden der „Selbsthilfegruppe für psychisch und angstgestörte Menschen“ an ihre Verschwiegenheit. © WP Balve | Corinna Schutzeichel

Als erwachsene Frau sah Angelika ihren Peiniger immer mal wieder. Das, was er ihr angetan hatte, blieb ungesühnt. Angelikas Leben allerdings haben die Taten nachdrücklich geprägt: „Sowas kann man nie abhaken.“ Es brauche nur eine Berührung, eine Bewegung, irgendetwas, das die Erinnerung an damals wieder aktiviert. „Dann ist alles sofort wieder da.“

Ängste und Depressionen gehören auch zu ihrem Leben dazu. Wer Angelika kennenlernt, kann sich diese Diagnosen kaum vorstellen. Die 74-Jährige wirkt aufgeschlossen, aktiv, wie eine buchstäbliche Powerfrau: „Viele sagen zu mir, dass ich immer so gut gelaunt bin“, erzählt sie. Wie es in ihrer Seele aussieht, bleibt den meisten verborgen. Von den Alpträumen, die sie nachts aufsuchen, erfährt niemand.

Die „Selbsthilfegruppe für psychisch und angstgestörte Menschen“ trifft sich im Evangelischen Gemeindehaus an der Hönnetalstraße in Balve. 
Die „Selbsthilfegruppe für psychisch und angstgestörte Menschen“ trifft sich im Evangelischen Gemeindehaus an der Hönnetalstraße in Balve.  © WP Balve | Corinna Schutzeichel

Irgendwann sagt ihre Psychologin zu ihr: „Wenn Sie nicht kürzer treten, leben Sie nicht mehr lange.“ Angelika beherzigt den Rat, legt seither auch mal Ruhepausen ein: „Aber dabei habe ich bis heute ein schlechtes Gewissen.“  

Telefonseelsorge

Wenn Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen oder Suizidgedanken leiden oder jemanden kennen, der daran leidet, können Sie sich bei der Telefonseelsorge helfen lassen. Sie erreichen sie unter 0800 1110-111 und unter 0800 1110-222 oder im Internet unter telefonseelsorge.de

„Sport und Bewegung haben mich gerettet. Ich muss mich dann aufraffen, ich zwinge mich dann dazu, aber damit kann ich mich abreagieren.“

Angelika

Im Laufe der Jahrzehnte hat Angelika einen Weg gefunden, mit allem, was sie erlebt hat, umzugehen: „Sport und Bewegung haben mich gerettet. Ich muss mich dann aufraffen, ich zwinge mich dann dazu, aber damit kann ich mich abreagieren.“ Oder sie geht an die frische Luft – auch bei Wind und Wetter und Eiseskälte.

„Schon das Aufstehen war ein Kraftakt.“

Ulla

Ulla

Irgendwann konnte sie nicht mehr. Seit vielen Jahren arbeitete die Balverin gemeinsam mit ihrem Mann im eigenen Betrieb. „Selbst und ständig“, erinnert sich die 64-Jährige. Irgendwann zog sich Ulla immer mehr zurück, zog sich am liebsten die Decke über den Kopf, wollte niemanden sehen. Sobald jemand sie ansprach, reagierte sie ängstlich. „Schon das Aufstehen war ein Kraftakt.“

Ihre Familie brachte sie schließlich zum Arzt, es folgte ein mehrwöchiger Klinikaufenthalt. Allmählich ging es Ulla wieder etwas besser, „aber ab da war ich nicht mehr so belastbar“, blickt die Balverin zurück. Im Alltag versuchte sie, weiterhin zu funktionieren – beruflich und privat. „Ich hatte immer ein schlechtes Gewissen, wenn ich nicht mehr konnte und mich zurückziehen wollte.“ Der Weg zur Selbstfürsorge war lang.

„Wenn man ganz tiefe Depressionen hat, dann ist man wie versteinert. Dann fühle ich gar nichts.“

Ulla

„Und dann hatte ich auch zum ersten Mal Suizidgedanken“, blickt Ulla zurück. „Das würde ich meiner Familie natürlich nie antun. Aber manchmal weiß man gar nicht, was mit einem los ist.“ Dann sei es schwierig, auf das Verständnis anderer Menschen zu setzen: „Die können einem ja nicht ansehen, was gerade los ist. Das können die dann gar nicht verstehen. Wenn man ganz tiefe Depressionen hat, dann ist man wie versteinert. Dann fühle ich gar nichts.“

Den Ursprung ihrer Ängste sieht Ulla in ihrer Kindheit verwurzelt. Sie habe ein Elternteil früh verloren, hatte Angst, das andere ebenfalls zu verlieren. „Ich habe als Kind den roten Faden im Leben verloren, und es gibt heute noch Situationen, da falle ich einfach in ein Loch.“

Im Laufe der Jahre hat Ulla, die mittlerweile im Ruhestand ist, gelernt, mit ihren Depressionen und ihren Ängsten zu leben und sagt: „Sobald man drüber redet, hat man den ersten Berg geschafft.“  

Ihr Körper sei „immer unter Anspannung“. Sport helfe ihr, „aber man darf den Körper auch nicht überfordern“. Wenn es mal besonders schlimm ist, ruft Ulla ein anderes Mitglied der Selbsthilfegruppe an: „Das kommt dann auf einmal, dann fangen die Gedanken wieder an. Dass ich alles nicht schaffe. Dann mache ich mir immer Sorgen um alles.“ Durch das Wissen, dass es Menschen gibt, die ihre Ängste und Gefühle nachvollziehen können, geht es Ulla besser. „Und notfalls sagt man auch mal: Jetzt ist mal Schluss!“, sagt ein anderes Mitglied der Gruppe.

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Franz

Franz hat das, was er erlebt hat, mehr als sein halbes Leben lang weggeschoben. Erst als er nach Jahrzehnten im Beruf arbeitslos wurde, kam alles hoch. „Ich war als Kind ein Bettnässer“, sagt der heute 79-Jährige. Kam er damals von der Schule nach Hause, empfing ihn seine Mutter mit Schlägen: mal mit dem Holzlöffel, mal mit einem Gummischlauch. Franz hatte Angst, wusste nie, wann es wieder Schläge setzte. Übernachtete er mal bei einer seiner Tanten, hatte er keine Angst – und machte nicht ins Bett.

„Die Arbeitslosigkeit war der Auslöser, dadurch ist alles wieder aufgebrochen.“

Franz

„Ich hab‘ das als Erwachsener alles weggeschoben“, sagt Franz. Als er arbeitslos wurde, „kam alles hoch. Die Arbeitslosigkeit war der Auslöser, dadurch ist alles wieder aufgebrochen.“ Der Balver wurde depressiv. „Ich saß nur noch auf dem Sofa. Meine Beine wollten mich irgendwie nicht mehr tragen“, erinnert er sich. Seine Frau brachte ihn zum Hausarzt, später kam er in eine Reha-Einrichtung: „Dann ging es mir langsam besser.“

Ein Mann steht vor einem dunklen Himmel. Die Bundesbürger fühlen sich im Vergleich zur Bevölkerung anderer EU-Staaten stärker von Depressionen belastet. Das geht aus einem neuen Teil der EU-Gesundheitsbefragung  hervor, die das Robert Koch-Institut Anfang dieses Jahres veröffentlichte. (Symbolbild)
Ein Mann steht vor einem dunklen Himmel. Die Bundesbürger fühlen sich im Vergleich zur Bevölkerung anderer EU-Staaten stärker von Depressionen belastet. Das geht aus einem neuen Teil der EU-Gesundheitsbefragung hervor, die das Robert Koch-Institut Anfang dieses Jahres veröffentlichte. (Symbolbild) © picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow

Heute hat Franz seinen Weg gefunden, mit den Depressionen, mit den Ängsten umzugehen. Er beschäftigt sich künstlerisch, dann versinkt er in seiner Welt: „Das mache ich jeden Tag, dadurch kann ich abschalten – und dann geht es mir besser.“

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Die Selbsthilfegruppe trifft sich regelmäßig im Evangelischen Gemeindehaus in Balve. Wer Interesse an einer Teilnahme hat, kann sich unter Telefon 0152-55776376 melden.