Solingen. Zwei Mädchen und ihre Eltern starben bei einer Brandstiftung. Der Prozess gegen den Verdächtigen läuft – es soll nicht seine einzige Tat sein.

Es ist eine frische Märznacht, als das Haus im Solinger Stadtteil Höhscheid in Flammen aufgeht. Laut Anklage hat es ein Mann um 2.29 Uhr betreten mit einer Tüte in der Hand. Darin ein Plastikkanister mit Benzin. Er vergießt mindestens einen Liter auf die hölzernen Treppen. Rauch füllt das Gebäude. Das Feuer schießt das Treppenhaus empor, binnen Minuten steht es komplett in Flammen: der einzige Fluchtweg für die Bewohner in den Obergeschossen.

Drei Jahre und fünf Monate sind die beiden Töchter, 28 und 29 Jahre ihre Eltern – die Familie Z. wird im Dachgeschoss von dem Brand überrascht, eingeschlossen, getötet. Alle acht Nachbarn darunter springen aus den Fenstern oder klettern zu Nachbarbalkonen und verletzen sich. Die Familie K. aus dem dritten Stock trifft es am schlimmsten, der Vater springt mit seinem sieben Jahre alten Sohn. Landet, vielleicht zum Glück, auf einem Autodach. Die Mutter kommt auf dem Bürgersteig auf. Auch ihre Verbrennungen und Brüche sind schwer bis lebensbedrohlich. Sie sind verwandt mit den getöteten Nachbarn, Cousins.

Was war sein Motiv?

Prozess wegen vierfachen Mordes und 21-fachen Mordversuchs
Justizbeamte führen den 40-jährigen Angeklagten in den Wuppertaler Gerichtssaal. © DPA Images | Federico Gambarini


Der Mann, der das Feuer gelegt haben soll, wird am Dienstagmorgen aus der Untersuchungshaft in Ratingen ins Wuppertaler Landgericht gebracht. Durch einen abgeschirmten Eingang tritt Daniel S. ein, plötzlich steht er da – ist er das wirklich? In seinem olivgrünen Kapuzenparka wirkt der kleine Mann mit den dunklen, kurz frisierten Haaren wie ein Besucher, gepflegt und aufgeräumt. 40 Jahre ist er mittlerweile alt, wirkt aber jünger. Er hält sich nicht, wie oft praktiziert, einen Aktendeckel vors Gesicht. Das Spalier der Kameraleute filmt, Daniel S. zeigt keine Scham.

Ihm gegenüber sitzen als Nebenkläger auch Ayshe und Ninat K., die mit ihrem Kind springen mussten. Sie sind noch immer in Behandlung, Ayshe wegen ihrer Verbrennungen, Ninat bekommt noch eine Fuß-OP, bekommt weiter nicht voll Luft, alle Rippen waren gebrochen, beide können nicht richtig laufen. Ihrem Sohn geht es vergleichsweise gut, er überstand das Drama mit einer verbrannten Hand und drei gebrochenen Rippen. Aber sie leiden an dem Trauma, sagt ihre Anwältin Seda Basay-Yildiz. Wie viele Angehörige heute tragen sie Trauerschwarz und T-Shirts mit einem Foto der ausgelöschten Verwandten – dazu der Schriftzug „Gerechtigkeit“.

Ayshe und Ninat Kostadinchev sind bei dem Brand in Solingen mit ihrem sieben Monate alten Sohn aus dem dritten Stock gesprungen. Sie erlitten schwerste Brüche und Verbrennungen. 
Ayshe und Ninat Kostadinchev sind bei dem Brand in Solingen mit ihrem sieben Monate alten Sohn aus dem dritten Stock gesprungen. Sie erlitten schwerste Brüche und Verbrennungen.  © WAZ | Thomas Mader

Erinnerungen an 1993

Ein Haus in Flammen, Brandbeschleuniger im Treppenhaus, Sprünge aus dem Fenster, eine getötete und eine schwer verletzte Familie, beide zufällig aus Bulgarien – in Solingen. Natürlich hat dieses Feuer zunächst an den rechtsextrem motivierten Anschlag von 1993 erinnert, der fünf türkische Mädchen und Frauen das Leben kostete. Die Tatorte liegen nur rund drei Kilometer voneinander entfernt. Mehr als 700 Menschen nahmen Ende März an einem Trauermarsch teil, um der Opfer zu gedenken.

Die Familie K. lebt seit rund zehn Jahren in Deutschland, die Cousins aus dem Dachgeschoss zogen nach. Der Vater fünf Monate vor dem Feuer, die Mutter und die Töchter nur einen Monat zuvor. Im Saal schweigen etwa 20 Angehörige, angereist aus dem bulgarischen Dorf Kostievo, darunter alle vier Großeltern der getöteten Mädchen. Der Großvater auf den Sitzen der Nebenanklage blickt den Angeklagten unentwegt an, sechs Stunden lang. Die Großmutter mütterlicherseits verlässt leise weinend den Saal, als die Anklage verlesen (und auf Türkisch übersetzt) wird. Noch in der Pause muss sie auf dem Flur von Verwandten gestützt werden. Daniel S. gibt den neutralen Beobachter.

Eine Bitte des Richters

Der Vorsitzende Richter Jochen Kötter spricht den Angehörigen im Namen seiner Kolleginnen und Kollegen Beileid aus und bittet sie, trotz aller Emotionen fair zu bleiben: „Hat der, der hier sitzt, das alles getan?“ Die Angehörigen bleiben den ganzen Morgen so still, als hielten sie den Atem an.

Prozess wegen vierfachen Mordes und 21-fachen Mordversuchs
Der Angeklagte wirkt wie jemand, der sich von der Straße herein verirrt hat. © DPA Images | Federico Gambarini

„Wir vermuten, dass der Anschlag doch etwas mit Rassismus zu tun hatte“, sagt die Schwester von Ninat K. auf dem Gerichtsflur. „Wir hoffen, dass der Prozess das Gegenteil beweist. Es wäre einfacher damit zu leben, wenn wir wüssten, dass es kein Rassismus war, dass wir uns nicht davor fürchten müssen. Wir wollen nur eins: Gerechtigkeit.“

Daniel S. soll mehrere Jahre vor dem großen Feuer im Hinterhaus des Anschlagsortes gelebt haben – bevor die beiden Familien einzogen. Die Vermieterin soll ihm gekündigt haben. Dafür habe er sich rächen wollen, vermuteten die Kriminalpolizisten schnell. Fremdenfeindliche Beweggründe konnten die Ermittler nicht ausmachen. Das Motiv ist die große Frage dieses Prozesses. Allerdings schweigt der Angeklagte bislang zu den Brandanschlägen – und seine Verteidiger kündigen am Dienstag erneut an, dass er sich nur zum Machetenangriff äußern will, der heute auch verhandelt wird.

Mehrere Überwachungskameras am Haus selbst hielten die Tat fest, doch in schlechter Qualität. Denn es dauerte noch über zwei Wochen, bis die Ermittler den Mann auf dem Video einer Tankstelle identifizierten und festnehmen wollten. Die Dauer der Ermittlungen wird sicher eine Rolle im Prozess spielen, denn der Angeklagte soll 14 Tage nach der Brandstiftung einen weiteren Mordanschlag unternommen haben. Als die Ermittler sich wegen des Brandes sicher waren, als das Kommando für die Stürmung seiner Wohnung schon bereitstand, erreichte die Polizei ein neuer Notruf.

Trauerkundgebung an dem ausgebrannten Haus an der Grünewalder Straße.
Trauerkundgebung an dem ausgebrannten Haus an der Grünewalder Straße. © dpa | Christoph Reichwein

Der Machetenangriff

Der Angeklagte soll in seiner Wohnung eine kleine, aber professionelle Marihuanaplantage betrieben haben. Am 8. April soll er einen Freund besucht haben, um ihm Gras zu verkaufen, die beiden kannten sich seit 14 Jahren. 15 Minuten verbrachten die beiden in der Wohnung, da drehte der 44-jährige Freund dem Verdächtigen den Rücken zu. „Anlasslos“, so heißt es in der Anklage, „sprühte er Reizgas in seine Richtung.“ Dann schlug er mit der 40 Zentimeter langen Machete zu. Der Bekannte erlitt eine schwer blutende Skalpierung, ihm wurde ein Teil der Kopfhaut abgetrennt. Trotzdem flüchtete er laut um Hilfe schreiend, stolperte auf der Treppe, brach sich den Fuß, als er dort lag, gab der Freund ihm einen weiteren Hieb in den Skalp – dennoch konnte das Opfer noch den Namen des Angreifers ins Telefon rufen.

„Mein Mandant ist immer noch stark beeinträchtigt“, sagt Opferanwalt Athanasios Antonaki vor Prozessbeginn. „Er war ja mit dem Angeklagten befreundet und weiß immer noch nicht, warum der Angriff erfolgte.“ Besonders erschüttert hab ihn, dass der Angreifer ihn bei der Flucht noch einmal erwischte. Auch unter den Kopfwunden leide sein Mandant körperlich und psychisch.

Damit nicht genug: Daniel S. soll schon zuvor zweimal Feuer gelegt haben. Eineinhalb Jahre zuvor, im November 2022, soll er schon einmal versucht haben, das Haus seiner Vermieterin anzuzünden. Er soll mehrere Grillanzünder abgelegt haben, durchtränkt mit einer brennbaren Flüssigkeit, dazu eine brennbare Box. Die hölzerne Trennwand zum Kellerabgang brannte bereits, als ein Bewohner die Feuerwehr rief. Im Februar, etwas mehr als einen Monat vor dem tödlichen Brand, soll er in einem anderen Haus in Solingen mehrere Liter Brandbeschleuniger ausgekippt haben. Doch sein Plan ging nicht auf, die Flüssigkeit brannte nur oberflächlich, das Feuer erlosch von allein.

Am Dienstag sagen mehrere Polizisten aus: Nach seiner Verhaftung fanden sie in seinem Keller diverse brennbare Flüssigkeiten und Brandsätze, Macheten und ein Gewehr. Psychiater haben den Solinger mit deutscher Staatsbürgerschaft natürlich auch schon untersucht. Aber sie haben nichts gefunden, was auf eine verminderte Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit hindeutet. Der Polizei fiel er freilich schon zuvor auf, allerdings nur mit kleinkriminellen Straftaten wie Unterschlagung und Diebstahl. Zur Tatzeit lebte er von Bürgergeld.

Eine lange Anklage

Juristisch bedeutet das: Daniel S. droht lebenslange Haft. Auch Sicherungsverwahrung komme in Betracht, erklärt der Vorsitzende Richter Jochen Kötter zum Auftakt. Für die vier Taten ist Daniel S. angeklagt wegen vierfachen Mordes und versuchten Mordes an 21 weiteren Personen, Brandstiftung (versucht, schwer, mit Todesfolge) sowie wegen gefährlicher Körperverletzung.

Weil diese Liste der Übeltaten so lang ist, weil so viele Opfer und ihre Angehörigen auf Aufklärung hoffen, soll der Prozess über elf Verhandlungstage bis Mitte März dauern.