Essen. Der Virologe Ulf Dittmer über Irrtümer, die Lehren aus der Pandemie – und über das nächste Virus, das ihm Sorgen bereitet.
Vor fast genau fünf Jahren, am 27. Januar 2020, startete Deutschland in die Corona-Pandemie. Bei einem Mann in Bayern wurde an diesem Tag das „severe acute respiratory syndrome 2“ diagnostiziert, eine Infektion mit SARS-CoV-2. Am 5. April 2023 erklärte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Pandemie bei uns für beendet. Doch das Land ist nicht mehr dasselbe – nicht nur, weil bundesweit 190.000 Menschen der Lungenerkrankung erlegen sind. Was hat Covid-19 verändert und was haben wir aus der Pandemie gelernt, fragen wir Prof. Ulf Dittmer, den Leiter des Instituts für Virologie der Essener Universitätsmedizin.
Prof. Dittmer, waren die drei Corona-Jahre die spannendsten in Ihrem beruflichen Leben – oder nur die anstrengendsten?
Ulf Dittmer: Es waren auf jeden Fall die intensivsten. Viel Arbeit, viel Anstrengung – aber es war wissenschaftlich schon sehr interessant, eine Pandemie in Echtzeit zu erleben. Das hatte man so noch nie mitgemacht.
Sie haben schon lange vor der Pandemie mit Wissenschaftlern in China kooperiert: tatsächlich sogar in Wuhan – wo die Pandemie ihren Ursprung hatte. Wann und wie haben Sie von dem neuen Virus erfahren?
Ende 2019 berichteten uns die Kollegen in Wuhan von einer Häufung von Patienten mit den entsprechenden Symptomen in ihren Kliniken. Und als sie im Januar 2020 anriefen, um zu berichten, dass sie jetzt sicher seien, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar sei, fürchtete ich schon, dass wir es in Deutschland auch sehen werden. Bis dahin hoffte man ja noch, dass es sich in China nur um eine gehäufte Mehrfach-Übertragung vom Tier auf den Menschen handelte.
Ist der Ursprung der Pandemie heute unstrittig?
Nein. Es gibt weiterhin mehrere Theorien, die alle nicht unmöglich sind. Es kann eine Übertragung aus einem Tierreservoir auf den Menschen gegeben haben. Diese Übertragung kann auch bei Arbeiten mit Viren oder infizierten Tieren im Labor stattgefunden haben – ohne dass das Virus bewusst genetisch manipuliert worden wäre. Dafür gibt es keine Anhaltspunkte, auch wenn viel darüber diskutiert wurde.
SARS-Viren waren für Virologen ja nichts Neues. Wann war Ihnen klar: Dieses ist wirklich ernst zu nehmen?
Noch vor Bergamo, im Januar oder Februar 2020, als die Kollegen aus Wuhan uns die dramatischen Zustände bei ihnen schilderten: sehr, sehr viele Patienten, so viele, dass sie mehrere in ein Bett legen mussten und Betten auch auf den Gängen standen; sehr, sehr viele infizierte Ärzte und Pflegekräfte; so viele Tote, dass sie nicht wussten, wohin mit ihnen. Sie berichteten auch, dass es keine Schutzartikel für ihre Arbeit mehr gab. Das letzte Flugzeug, das in Deutschland startete, um Deutsche aus Wuhan rauszuholen, haben wir vollgepackt mit Kitteln, Masken und anderen Schutzmaterialien, um ihnen zu helfen.
Und wenig später, als bei uns die Dinge knapp wurden, haben Sie es bedauert?
Als es hier umschlug, haben wir eine große Lieferung aus Wuhan zurückgekriegt.
Bereits Anfang Februar 2020 warnten Sie in der WAZ vor der drohenden Gefahr, vor engen Kontakten im Straßenkarneval. Aber damals erklärten Sie auch, dass es vermutlich nicht so schlimm werden würde, wie in der Grippesaison 2017/18, als 25.000 Menschen in Deutschland starben ...
Ja, das war eine Fehleinschätzung. Doch es gab immer diese Unsicherheit, wie übersetzt sich das Geschehen aus China in der westlichen Welt, das chinesische Gesundheitssystem ist so anders als das in Deutschland. Erst später, als wir die ersten verlässlichen Zahlen hatten, war klar, dass dieses Virus deutlich letaler ist als die Grippe.
Im selben Interview sagten Sie auch, die einfachen OP-Masken würden als Schutz wenig taugen und die wirklich dichten seien auf Dauer nicht zu tragen …
Wir wussten, dass FFP2-Masken funktionieren, aber wir haben uns damals am Arbeitsschutzgesetz orientiert. Und da steht eindeutig drin, dass man diese Dinger nur anderthalb, zwei Stunden tragen darf und dann eine Pause machen muss. Heute wissen wir alle, dass man FFP2-Masken auch länger tragen kann. Dass uns auch die einfachen, sogar die selbstgenähten Masken gegen Coronaviren schützen, ist uns erst durch Studien klar geworden.
Gab es andere große Irrtümer?
Wo wir wirklich daneben gelegen haben, war, wie schnell sich im zweiten Jahr diese Varianten gebildet haben und wie schnell die das vorherrschende Virus verdrängt haben. Plötzlich hieß es, da gibt es dieses Delta-Virus in Indien – und anderthalb Monate später war es in Deutschland vorherrschend. Diese rasante Evolution, die hat uns schon überrascht.
„Delta war ein Katastrophenvirus.“
Mit der Delta-Variante bekam die Pandemie noch einmal einen richtigen Schub.....
Delta war ein Katastrophenvirus. Wenn wir das hätten über uns ergehen lassen müssen, ohne bereits die besonders vulnerablen Gruppen geimpft zu haben – das hätte unser Krankenhaussystem zum Erliegen gebracht. Im Osten der Republik hat man es ja gesehen, da waren die Krankenhäuser teilweise nicht mehr funktionsfähig, die haben ihre Patienten per Hubschrauber zu uns geflogen. Von Delta waren plötzlich ja auch junge Menschen betroffen, ich erinnere mich noch gut, dass in unserer Klinik innerhalb einer Woche ein 17- und ein 21-Jähriger starben.
Für Wissenschaftler ist es „normal“, dass man sich irrt, Annahmen korrigieren muss. Für die Bevölkerung war gerade das schwer zu verstehen.
Ich glaube, dass es sich nicht vermeiden lässt, dass man in einer Pandemie neue Erkenntnisse gewinnt und sich korrigieren muss. Aber wir hätten es besser erklären müssen. Dazu kam, dass man Maßnahmen, die man einmal entschieden hatte, zu selten wieder korrigiert hat. Schon im Herbst 2020 war uns Virologen zum Beispiel klar, dass es völlig unsinnig war, Spielplätze draußen zu schließen.
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Sie haben immer wieder betont, welch großes Glück es war, dass wir so schnell eine so wirksame Impfung gegen Corona hatten. Doch anfangs überlagerte der Kampf um die wenigen verfügbaren Dosen die gute Nachricht – und, als es genug gab, wollten gar nicht mehr alle eine. Die erhoffte Herdenimmunität wurde ja nicht erreicht…
Doch. Wir haben Herdenimmunität. Nur in anderer Form, als wir dachten. Wir sehen weiterhin Infektionen, trotz Herdenimmunität. Obwohl 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sind oder die Infektion überstanden haben – heute wissen wir: Es ist nicht dabei herausgekommen, was wir vorher als Herdenimmunität definiert hatten, nämlich dass es diese Virusinfektion danach nicht mehr gibt.
Der Covid-19-Impfstoff schützte nur bis zum Auftreten der Virusvarianten vor der Infektion selbst, er verhinderte vor allem – zuverlässig auch bei allen späteren Varianten – die schweren Krankheitsverläufe. Daraus abzuleiten, die Impfung habe nichts gebracht, ist falsch. Medizinisch ist doch das Einzige, was zählt, dass schwere Erkrankungen verhindert werden. Am Ende ist die Pandemie durch die Impfung beendet worden.
Was wissen Sie inzwischen über Impfschäden und Long Covid?
Wir wissen, welche Impfschäden auftreten können: Herzmuskelentzündungen bei RNA-Impfstoffen oder Neuropathien, um die wichtigsten zu nennen. Aber die sind extrem selten. An der Entdeckung der Thrombose-Fälle nach der AstraZeneca-Impfung waren wir selbst ja beteiligt. Ich erinnere mich gut an diesen Montagmorgen im März 2021, nach dem Wochenende, als überall im Land Fälle aufpoppten und ich im Krisenstab der Stadt Essen erklären musste, dass diese schweren Erkrankungen wohl auf den Vektor-Impfstoff zurückzuführen sind. Einen Patienten haben wir selbst hier in Essen behandelt. Das war eine dramatische Situation, man hatte noch nicht genug Impfstoff und musste einen davon tot reden. Einen Tag später wurden die Impfungen mit diesem Impfstoff ja deutschlandweit ausgesetzt.
Über Long Covid wissen wir, dass es eine sehr, sehr komplexe Erkrankung ist. Und wir wissen, dass jeder achte Infizierte, der nicht vorher geimpft war, medizinische Langzeitfolgen hat. Das ist, muss man ganz klar sagen, ganz anders als bei anderen respiratorischen Viren.
Im Rückblick, wie ist NRW durch die Pandemie gekommen?
Eher gut, trotz wirklich schlechter Startbedingungen. Wir haben hier die engsten Ballungsräume Deutschlands, Europas. Das ist immer schlecht in einer Pandemie. Und wir hatten in Heinsberg das erste große Infektionsgeschehen. Aber in NRW war von Anfang an eine sehr gute Diagnostik vorhanden – wir haben hier sechs Universitäts-Virologien, deutschlandweit die höchste Zahl für ein Bundesland, aber auch viele große, private Labore, die wirklich hervorragende Arbeit geleistet haben.
Und wir haben hier eine sehr gute Behandlung gehabt, sehr viele Zentren mit Intensivbetten und großer Expertise. Nach der Charité in Berlin war Essen das größte Covid-Behandlungszentrum Deutschlands. Knapp 5500 Patienten wurden hier stationär versorgt. Auch die Impfung ist hier im Großen und Ganzen gut organisiert gewesen.
Die Politikberatung war besser als in vielen anderen Bundesländern, vielleicht auch, weil NRW – wenn auch nicht von Anfang an – alle sechs Virologien mit einbezogen haben. Wir sechs mussten zu einem Konsens kommen, dann durften wir Herrn Laumann beraten. Einzelmeinungen taugen für so eine Situation nichts, Wissenschaft lebt vom Diskurs.
Im Nachhinein ist man immer schlauer. Welche entscheidenden Fehler wurden gemacht?
Sicherlich muss man im Nachhinein einige Maßnahmen kritisch sehen, etwa die Besuchsverbote auf Palliativstationen oder in Altenheimen. Ich denke, es hätte bessere Lösungen geben müssen, als einfach die Türen abzusperren. Aber das Grundkonzept – viele Kontakte, viele Infektionen, hohes Risiko für besonders Gefährdete– das war richtig. Man konnte keine Durchseuchung zulassen und nur die Alten schützen, die leben nämlich mitten unter uns.
Ganz sicher nicht ausreichend bedacht wurde, dass, um diese Risikogruppe zu schützen, den Jungen, die selbst selten schwer erkrankten, die Sozialkontakte komplett genommen wurden – und das hat leider medizinische Langzeitfolgen verursacht. Hätten wir das vorher so gewusst, hätten wir fragen müssen, spätestens vor dem zweiten Lockdown: Haben wir ethisch das Recht, von den Jungen zu verlangen, die Alten zu schützen, wenn sie darüber selbst krank werden? Lösen wir so einen Generationenkonflikt aus? Deswegen hat die Gesellschaft für Virologie im August 2020 auch empfohlen, alles zu tun, um nicht wieder Schulen zu schließen. Leider war die Organisation der Schutzmaßnahmen an den Schulen oft ein Komplettchaos, das war wirklich sehr schlecht koordiniert.
Wir haben in Deutschland zudem lange sehr wenig über Infektionen am Arbeitsplatz diskutiert. Das hat etwa Schweden deutlich besser gemacht. Arbeiten nur noch in Kleingruppen und sehr viel Homeoffice. Hier war dieses Thema lange Zeit tabu. Zuletzt: Mir fehlt die politische Aufarbeitung der Pandemie. Beim nächsten Mal müssen wir doch wissen: Welche Maßnahmen waren wirksam, welche waren verzichtbar?
Masken und Schnelltests werden noch immer da produziert, wo es am günstigsten ist, oder? Haben wir etwas gelernt aus den Erfahrungen mit Covid?
Ich hoffe, wir haben gelernt, dass die Sachen, die man braucht, hier sein müssen – in großen Mengen. Ob man die dafür auch hier produzieren muss, müssen andere entscheiden. Wir haben auch gelernt, wie man grundsätzlich mit einer Pandemie umgeht, um sie schnellstmöglich zu beenden. Dass die Diagnostik dabei sehr wichtig ist. Wenn wir nicht wissen, welcher Erreger es ist, können wir nichts dagegen tun. Dass es dann physikalischer Barrieren bedarf, um die Ausbreitung einzudämmen, eines Mund-Nasen-Schutzes etwa. Dass es Zeit braucht, um Impfstoffe zu entwickeln. Dass wir ohne gesellschaftliche Solidarität ein Virus niemals stoppen können. Wenn eines käme, das noch letaler ist, hätte es fatale Folgen, wenn sich nur 20 Prozent der Bevölkerung nicht impfen lassen....
„Wir wissen: H5N1 kann sich auf den Menschen übertragen ...“
Welches Virus wird die nächste Pandemie auslösen?
Wir beobachten derzeit mit einer gewissen Skepsis die Vogelgrippe in den USA, das Virus H5N1. Dieses Virus gibt es schon lange. Aber das Ausmaß des Infektionsgeschehens war noch nie so groß. Millionen Vögel sind tot, einige Arten vom Aussterben bedroht. Und wir wissen, H5N1 kann sich auf den Menschen übertragen – unter sehr seltenen Voraussetzungen, aber wenn: dann liegt die Letalität bei 40, 50 Prozent. Ein erster Todesfall in Louisiana wurde jetzt berichtet. Die Frage, ob sich das Virus auch von Säugetier zu Säugetier überträgt, beantwortet gerade die Natur.
Das Problem in den USA sind die Kühe. Sie können sich infizieren und scheiden das Virus mit der Milch aus. Menschen, die diese Milch unpasteurisiert trinken, infizieren sich. Das Virus hat sich also schon nachweislich genetisch verändert, um sich in Säugetieren auszubreiten. Und das ist Besorgnis erregend, zumal die Behörden in Texas nicht offen aufklären. Wir wissen aber doch inzwischen, wie schnell so ein Virus um die Welt reisen kann. Und bei Vogelgrippe transportieren es nicht nur Menschen, sondern auch Zugvögel!
Die gute Nachricht lautet vorläufig: Über die Milch verursacht das Virus bisher beim Menschen nur milde Verläufe.