Köln. „Selma“ soll in Köln von der Einwanderung nach Deutschland erzählen. Wieso für Ahmet Sezers Idee selbst 150.000 Objekte nicht reichen.

Das erste Sammlerstück, das Ahmet Sezer einst in eine Essener Garage trug, war eine Tracht seiner türkischen Folkloregruppe. Mehr als drei Jahrzehnte ist das her, und der damals 31-jährige Lehramtsstudent traute sich kaum zu träumen, dass das, was er eine „Utopie“ nennt, jemals wahr werden würde. Heute ist Sezer 66, und am Dienstag zum Tauffest in Köln. Dort entsteht in einer alten Maschinenhalle ein Migrationsmuseum. 150.000 Exponate, die die deutsche Einwanderungsgeschichte nacherzählen, gibt es bereits, das Geld ist da – und nun auch ein Name: Selma.

Sie haben den Nagel einer Bombe aus der Kölner Keupstraße, einen Stein, der in Rostock-Lichtenhagen auf Asyleinrichtungen geworfen wurde, und das Radio der Familie Genç aus dem Brandhaus von Solingen. Sie wollen erinnern, aber nicht nur an die dunklen Seiten deutscher Migrationsgeschichte. Es werden also auch solche Dinge zu sehen sein im neuen Museum: der bestickte Rock einer koreanischen Krankenschwester, die Langspielplatte eines griechischen Sängers, die Schreibmaschine von Theodor Wonja Michael, des wohl ersten schwarzen Mitarbeiters beim Bundesnachrichtendienst. Das Pixie-Buch, in das die Eltern in Deutschland dem Kind in der Türkei sehnsüchtige Grüße schrieben. Oder das Foto von türkischen Ford-Angestellten im Karneval: vier Männer und eine Luftschlange.

Domid
Sehnsuchtsgrüße im Pixie-Buch: Eltern schrieben sie an ihr Kind in der Türkei. © DOMiD-Archiv, Köln | Domid

Unvergessen: der vollgepackte Ford Transit

Es gibt Betten aus Wohnheimen, viele alte Koffer, Bergmannskluft – und einen Transit, wie so viele Familien ihn des Sommers vollpackten, die Kinder hinein, das Gepäck aufs Dach und ab in die jugoslawische oder türkische Heimat.

Ahmet Sezer
Stolz auf das Erreichte: Ahmet Sezer ist von Anfang dabei, gründete den Verein in Essen mit. © SPD | HANDOUT

Dabei waren sie nicht alle Gastarbeiter, die Menschen aus dem Ausland, deren Geschichte(n) die Ausstellung erzählen will. Es geht um Flucht, aber auch um wissenschaftlichen Austausch, manchmal um Liebe. Intellektuelle sind es gewesen, die damals in Essen einen Verein gründeten: Das „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland“ widmete sich zunächst den türkischen Einwanderern. NRW-Integrationsministerin Josefine Paul nennt es am Dienstag „eine Graswurzel-Initiative“. Ein Professor war damals dabei, erinnert sich Ahmet Sezer, der rechnete mit einer Million Mark, sonst brauche man gar nicht erst anzufangen. Die anderen hätten beschlossen: „Wir fangen mal an und sehen, wohin es uns führt.“

Wissen über die Einwanderung verlorengegangen

Ohne Raum, ohne Mittel, nur mit dem Gedanken, es sei nötig, eine Gedächtniskultur aufzubauen: Die Migranten, sagten damals die Migranten selbst, kamen in den Erzählungen über Deutschland nicht vor. Es sei Wissen über die Einwanderung verlorengegangen, sagt Sezer, und spricht von einer „Rettungsaktion“. Auf Türkisch gibt es ein Sprichwort für die mühsame Arbeit der Jahrzehnte: „mit einer Nadel einen Brunnen ausgraben“.

Migrationsmuseum
In dieser alten Montagehalle im Stadtteil Kalk wächst bis 2029 das Migrationsmuseum. © DOMiD-Archiv, Köln | Wolfgang Heep

Zunächst sammelten sie Dokumente, mit Sezers Tracht kamen die ersten Objekte hinzu. Immer getrieben war der Verein von dem Gedanken, dass die deutsche Historie geprägt sei von Einwanderung, dass diese die Gesellschaft mitgestaltet. Wichtig sei „Domid“ von Beginn an gewesen, mitzuentscheiden über „unsere Geschichte“, sagt Ahmet Sezer. Die erste Ausstellung, die das berücksichtigte, war 1998 das damalige Ruhrland-, heute Ruhrmuseum, wieder in Essen: Die Schau sei die erste zum Thema Einwanderer in Deutschland überhaupt gewesen.

Und das Sammeln ist noch immer nicht vorbei, 150.000 Objekte sind nie genug, ahnt Sezer. Die Museumsgesellschaft spricht von einer „Basis“, das Ganze sei „eine Werkstatt“. Aber für die Gründer von 1990 sei es „ein schönes Gefühl“, dass es nun endlich einen Ort gibt, wo ihre Vision Wirklichkeit wird. „Wir sind sehr stolz, dass wir es so weit geschafft haben.“

Domid
Koffer von Vertriebenen, von Flüchtlingen, von Gastarbeitern: Von ihnen gibt es viele im Depot des Vereins Domid. © DOMiD-Archiv, Köln | Domid

In alter Montagehalle arbeiteten früher die Gastarbeiter

Auch bis es das Museum gibt, werden weitere Jahre ins Land gehen, „Werkstatt“ ist ein passendes Wort. Derzeit läuft ein Architektenwettbewerb, mit einer Eröffnung ist erst 2029 zu rechnen. Doch Bund und Land haben Unterstützung in Höhe von gemeinsam mehr als 44 Millionen Euro zugesagt, und seit wenigen Tagen gibt es einen Vertrag mit der Stadt Köln: Ausstellung und Depot ziehen in eine alte Montagehalle der Firma Klöckner-Humboldt-Deutz-Werke.

„Halle 70“ mit ihren 10.000 Quadratmetern steht im migrantisch geprägten Stadtteil Kalk auf der rechten Rheinseite, wo das Chinarestaurant gegenüber „Balkanfood“ liegt und der türkische Gemüsehändler neben einem italienischen und einem bulgarischen Feinkostenladen (und gleich in der Nähe des Ausländeramts). Man sieht ihr die Arbeit noch an, auch wenn Moos und Farn über gebrochenen Beton und morsche Bodenplatten gewachsen sind. Schalttafeln, der „Kranschalter“ und der „Bahnhof 2“ erinnern an Zeiten, als hier noch vor allem Griechen, Türken, Jugoslawen schufteten.

Migrations Museum
Typisch: Im Sommer reisten Familien zurück in die südliche Heimat, der vollgepackte Transit bleibt unvergessen. Hier in Köln-Deutz 1983. © DOMiD-Archiv, Köln | Guenay Ulutuncok

Selma heißt „Aussicht“, „Schutz“ oder „Harmonie“

Männer also, die beim Phänomen Migration vor allem wahrgenommen würden, heißt es von der Museumsleitung. Deshalb habe man sich bewusst entschieden, dem Museum – Arbeitstitel „Haus der Einwanderungsgesellschaft“– einen Frauennamen zu geben, „um die weibliche Perspektive zu stärken“: „Selma“, vorn mit scharfem S, soll es heißen. Nicht weil Selma am Dienstag tatsächlich Namenstag hat; es sei einfach zu merken, funktioniere international und passe zum Konzept: „Selma“ verbinde die keltische Bedeutung von „schöne Aussicht“ oder „Schutz“ mit arabischen Begriffen für „Harmonie“ und „Frieden“. Zudem sei der Name in Dutzenden Ländern der Welt als weiblicher Vorname verbreitet.

Ahmet Sezer gefällt der Name, obwohl ihm nicht gleich eingeleuchtet hat, warum „Migrationsmuseum“ nicht Titel genug war. Aber die Argumente der Werbefachleute haben ihn überzeugt. Man müsse Interesse wecken, „wichtig ist, neugierig zu machen“. Und wenn das nur anfängt damit, dass einer nach Selma fragt: „Was hat denn die damit zu tun?“