Essen. Clans aus NRW sind Teil der Organisierten Kriminalität. Aber wie viele Familienmitglieder stecken tatsächlich mit drin?
Clans! Prügeln sich auf der Straße. Greifen Helfer im Krankenhaus an. Sind verstrickt in Organisierte Kriminalität. Clan – ist auch ein anderes Wort für Familie. Die kann man sich nicht aussuchen. Und mit dem Nachnamen kommen Nachteile. Aber wie kriminell sind die Clans tatsächlich?
Wie viele Clans gibt es?
Die Zahl der Clans, deren Straftaten im jüngsten Lagebild 2022 statistisch erfasst werden, liegt bei 116 in NRW. Jedoch bildet dies nur kriminelle Netzwerke ab innerhalb von Großfamilien libanesischer Herkunft und aus dem türkisch-arabischen Raum (einschließlich Syrien). Einzelne Tatverdächtige können auch die deutsche oder eine doppelte Staatsangehörigkeit haben, sie können staatenlos oder mit ungeklärtem Status sein. Das neue Lagebild Clankriminalität will das Landeskriminalamt im November herausgeben.
Wie viele Familienmitglieder werden straffällig?
Die allermeisten Mitglieder der beobachteten Familien sind nicht durch Straftaten aufgefallen. Das prominenteste Beispiel ist sicher die Großfamilie Al-Zein. Etwa 3000 Menschen gehören in Deutschland dazu. Das Landeskriminalamt ermittelte 231 Verdächtige aus diesem Netzwerk, hinzu kommt eine zweistellige Zahl an Familienmitgliedern, die bereits verurteilt worden ist. Grob gesagt kommen hier also auf einen potenziellen Straftäter neun Verwandte, die polizeilich unauffällig sind.
Aus den verfügbaren Gesamtdaten zeichnet sich ein ähnliches Bild: Bundesweit sollen 200.0000 Menschen zu den einschlägigen Großfamilien gehören, schätzt das Bundeskriminalamt. Etwas mehr als 4000 Verdächtige konnte die Polizei in NRW im Jahr 2022 identifizieren, in Niedersachsen waren es rund 3000, in Berlin knapp 600. Das sind die Schwerpunkte in Deutschland, anderswo sind die kriminellen Netzwerke deutlich schwächer vertreten (weswegen es keine weiteren umfassenden Lagebilder gibt).
Der Clan-Forscher Dr. Mahmoud Jaraba von der Uni Erlangen-Nürnberg erklärt dazu in einer Expertise für den Landtag: „In meiner Forschung habe ich wiederholt festgestellt, dass sich die Mehrheit der Familienmitglieder von kriminellen Handlungen distanziert und oft keinerlei Verbindung zu solchen Aktivitäten hat. Viele Familienmitglieder halten sich bewusst von kriminellen Aktivitäten fern. Dennoch geraten sie aufgrund ihrer familiären Zugehörigkeit häufig unter Generalverdacht.“ Auf Anfrage ergänzt Jaraba: „Selbst in hochkriminellen Strukturen gibt es Menschen, die kritisch sind und nach Alternativen suchen, besonders Frauen. Oft sprechen sie sich nicht öffentlich aus, weil sie Konsequenzen fürchten.“
Wer sind die Verdächtigen?
Mehr als die Hälfte der rund 4000 Tatverdächtigen hat den deutschen Pass. Fast ein Fünftel von ihnen ist weiblich. Das Durchschnittsalter beträgt 30 Jahre. 184 Personen gelten als Intensivtäter. Sie sollen für rund ein Viertel aller Straftaten verantwortlich sein.
Womit machend die Clans Geschäfte?
Der überwiegende Teil der rund 6600 zuletzt in NRW von Clan-Mitgliedern begangenen Straftaten ist schwerwiegend. Ein Drittel machen Gewalttaten und Freiheitsberaubung aus. Betrügereien, Fälschungen und Diebstahl stellen zusammen ein weiteres Drittel. Drogendelikte machen rund sechs Prozent aus, Zuhälterei, Prostitution und andere Sexualstraftaten knapp drei Prozent.
Allerdings zählen zur Statistik auch Verkehrsstraftaten, vom Schwarzfahren bis zum illegalen Rennen – sie machen rund zehn Prozent aus. Weitere 17 Prozent verteilen sich auf sonstige Straftaten.
Die Zahl der Fälle ist im Jahr 2022 um rund ein Fünftel angestiegen. Allerdings ist es wahrscheinlich, dass dies auf mehr Kontrollen zurückzuführen ist – auf die „Strategie der tausend Nadelstiche“ von NRW-Innenminister Herbert Reul. Denn die Zahl der Verfahren mit Clan-Bezug im Bereich der Organisierten Kriminalität war 2022 zugleich leicht rückläufig.
Wie viel davon ist Organisierte Kriminalität?
Die gute Nachricht: 2023 hat sich die Organisierte Kriminalität mit Clan-Bezug in NRW sogar mehr als halbiert gegenüber dem Niveau der Vorjahre (von 16 auf 7 Ermittlungen). Das geht aus dem aktuellen Lagebild Organisierte Kriminalität (OK) hervor, welches das Bundeskriminalamt bereits vorgelegt hat. Die schlechte Nachricht: Wahrscheinlich verlegen die Clans ihre Aktivitäten nur. Denn bundesweit ist die Zahl der Verfahren nur marginal gesunken auf 44. Spitzenreiter ist nun Niedersachsen mit 10 Ermittlungen.
Bundesweit stehen rund 730 Personen im Fokus der Ermittler. Was die Herkunft angeht, verteilt sich das Gros der Fälle in etwa gleichen Teilen auf Großfamilien mit Wurzeln im Libanon, der Türkei und arabischen Staaten, vor allem Syrien. Großfamilien vom Westbalkan (Serbien, Albanien etc.) sind mit drei Verfahren vertreten. Vier Ermittlungen galten familiären Netzwerken anderer Herkunft. In NRW waren fast alle Verfahren libanesischstämmigen Netzwerken zuzuordnen. Clan-Forscher Jaraba erklärt auf Anfrage, dass sich außerdem noch syrische Netzwerke „im Aufbau befinden, aber bereits Ansätze transnationaler Aktivitäten zeigen“.
Bundesweit spielen die Clans in knapp sieben Prozent aller Ermittlungen zur Organisierten Kriminalität eine Rolle. In NRW liegt der Anteil deutlich höher: 17,5 Prozent zeigen hier Verbindungen zu Clans (im Jahr 2022).
Sind diese Strukturen schon in Syrien oder Libanon entstanden oder in Deutschland?
„Die kriminellen Strukturen haben sich größtenteils in Deutschland entwickelt“, erklärt Jaraba. „Doch die Hintergründe der Akteure spielen eine wichtige Rolle. Netzwerke und familiäre Verbindungen aus den Herkunftsländern schaffen Vertrauen und erleichtern den Aufbau krimineller Strukturen hier.“
Wie gefährlich sind diese mafiösen Netzwerke?
Clan-Forscher Jaraba sieht besonders bei den syrischen kriminellen Gruppen ein Streben, tief in die „breitere syrische Gemeinschaft“ vorzudringen: „Sollten diese Strukturen ihre Verbindungen in andere Teile der syrischen Diaspora verstärken, könnte dies die innere Sicherheit in NRW erheblich gefährden.“ Denn es könne zu „Konkurrenz kommen zwischen den ‚alten‘ und ‚neuen‘ kriminellen Strukturen als auch innerhalb der ‚neuen‘ Netzwerke“.
Schon bei den Tumulten in der Essener Innenstadt und in Castrop-Rauxel im Sommer 2023 sollen Machtansprüche zwischen den alteingesessenen libanonstämmigen Familien und den „neu hinzugezogenen“ Syrischen Netzwerken gewesen sein. Auch bei einer Prügelei zwischen zwei Familien im Mai 2024 bei einem Fußballspiel in Essen-Altenessen mit Messern und Macheten soll es ums Geld gegangen sein.
Die Nähe von NRW zu den Niederlanden, warnt Jaraba, ermögliche den kriminellen Gruppen eine schnellere und effektivere Expansion über die Landesgrenzen hinweg, vor allem im Drogen- und Menschenhandel. Das erschwere die Arbeit der Polizei zusätzlich und beanspruche ihre Ressourcen stark.
Warum steht der Clan-Begriff in der Kritik?
Das Lagebild der Polizei beruht auf Familiennamen. Damit fließen Straftaten ein, ganz unabhängig davon, ob sie etwas mit der Familie oder einem kriminellen Netzwerk innerhalb der Familie zu tun haben oder eben nicht. Auf diese Unschärfe weist das Landeskriminalamt selbst hin.
Der Begriff „Clan“ unterstelle, dass kriminelle Aktivitäten immer auf familiäre Netzwerke oder Loyalitäten zurückzuführen seien. Doch dies entspreche nicht der Realität, erklärt Forscher Mahmoud Jaraba. Neben den hochkriminellen Netzwerken, die in einigen Familien über Generationen hinweg bestehen und die den eigentlichen Kern der Organisierten Kriminalität ausmachen, gebe es auch „lockere Netzwerke“, die ohne Hierarchie und langfristige Pläne gelegentlich zusammenarbeiten. Und daneben zahlreiche Einzeltäter, die mal mit gelegentlicher Unterstützung der Familie Straftaten begehen, oft aber auch unabhängig.
Auch bei den Tumulten, die immer wieder auf der Straße stattfinden, gehe es nicht zwangsläufig um kriminelle Aktivitäten, so Jaraba. Zum Beispiel war auch ein privater Streit zwischen zwei Familien Anlass für eine Massenschlägerei am Gladbecker Rosenhügel im Juli.
Das Lagebild Clankriminalität, erklärt Jaraba auf Anfrage, biete „zwar eine grundlegende Übersicht, verfehlt jedoch häufig eine differenzierte Darstellung.“ Es fokussiere sich noch zu stark auf die libanesischstämmigen Gruppen, während sich tatsächlich schon weitere kriminelle Netwerke bildeten, zum Beispiel in syrischen, rumänischen und bulgarischen Gemeinschaften.
„Die Vorstellung, dass kriminelle Familiennetzwerke streng hierarchisch und nach mafiösen Strukturen organisiert seien, ist eine realitätsferne Vereinfachung.“ Pauschalisierungen verstellten den Blick auf effektive strafrechtliche und präventive Maßnahmen. Und sie führten zu einer Stigmatisierung ganzer Familien und dazu, „dass viele junge Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen oder Arbeitslosigkeit landen, was wiederum ihre soziale Isolation verstärkt und negative Dynamiken begünstigt“.