Essen. „Alte Clans“ libanesischer Herkunft und „neue Clans“ syrischer Herkunft konkurrieren. Im Sommer 2023 eskalierte die Gewalt mitten in Essen.

  • Dr. Mahmoud Jaraba, ein Politologe von der Universität Erlangen-Nürnberg, warnt in einer Stellungnahme für den Innenausschuss des Landtages vor möglichen neuen Problemen mit einem kleinen Teil von zugewanderten Syrern. (Zum Artikel)
  • Es gehe um Spannungen zwischen „alten Clans“ libanesischer Herkunft und „neuen Clans“ syrischer Herkunft, die aber nicht nur auf kriminelle Aktivitäten zurückzuführen seien. Anfang November soll ein neues Lagebild zur Clan-Kriminalität in NRW veröffentlicht werden, allerdings noch ohne konkreten Bezug zu Syrern. 
  • Im Sommer 2023 hatte es eine aufsehenerregende Auseinandersetzung mitten in der Essener Innenstadt gegeben. Den folgenden Artikel hat unsere Redaktion vor mehr als einem Jahr veröffentlicht. Unser Autor hatte sich damals auch mit den Hintergründen in der Clan-Szene beschäftigt, weswegen wir den Text noch einmal aktuell veröffentlicht haben.

Dieser Artikel erschien das erste Mal am 19. Juni 2023:

Drei Tage nach den verstörenden Zusammenstößen zwischen libanesischen und syrischen Großfamilien am Freitagabend, 16. Juni 2023, mitten in der Stadt atmet Essen vorsichtig durch. Die Salahu-d-Dîn-Moschee in Altenessen, die im libanesischen Milieu tief verwurzelt ist, verbreitet am Montag (19. Juni) eine Nachricht, die nach Deeskalation klingt. Es habe tags zuvor in der II. Schnieringstraße eine eindringliche Ansprache an rund 150 Personen gegeben. „Wir wollen die Gemüter beruhigen und alles daran setzen, Gewaltexzesse und Blutvergießen zu verhindern“, betont Alaa El-Sayed, der stellvertretende Vorsitzende des Islamischen Zentrums.

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Kenner des Clan-Milieus nehmen dieses Friedenssignal trotzdem mit erheblicher Skepsis auf. Übereinstimmend sprechen sie von einem erbittert geführten libanesisch-syrischen Machtkampf, der sich Laufe der letzten Jahre gefährlich hochgeschaukelt habe. Es geht um Drogen- und Menschenhandel, aber auch um Restaurants oder Shisha-Bars.

Essens syrische Community ist seit 2010 von 500 auf fast 16.000 Personen gewachsen

Die aktuelle Lage vergleichen sie mit einem Pulverfass, das jederzeit aufs Neue hochgehen könne - zumal es die Libanesen mit einem selbstbewussten Gegner zu tun haben: Die syrische Community allein in Essen ist binnen zehn Jahren auf fast 16.000 Personen angewachsen.

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Wer die beliebte Video-App „TikTok“ auf seinem Smartphone installiert hat und des Arabischen mächtig ist, dringt schnell ein in die beängstigende Parallelwelt aus Beleidigungen und Beschimpfungen, aus Macho-Gehabe und martialischer Protzerei, aus purem Hass und roher Gewalt. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich aktuell ein Clip, das den beängstigenden libanesischen Aufmarsch in Essen eindrucksvoll dokumentiert.

Zu sehen sind Männer unterschiedlichen Alters, die in mehrfacher Kompaniestärke am Weberplatz vorbei in Richtung Innenstadt marschieren. Es sieht aus, als zögen sie in den Krieg. Einer zeigt das Victory-Zeichen, andere sprechen üble Morddrohungen aus wie „Mach TikTok zu und komm Blut trinken“ (0:28 min) oder „Wo ist der Syrer, der Blut trinken will?“ (0:55 min). Polizeibekannte Gesichter sind auf dem Clip ebenfalls zu erkennen. Auch Clan-Größe Bilal H., einschlägig bekannt als „Pumpgun-Bilal“, hat sich eingereiht. Den Videofilmer begrüßt er herzlich per Handschlag und dem Wort „Habibe“. Das hässliche Wort vom „Blut trinken“, so heißt es, soll zuerst die syrische Seite in den Mund genommen haben.

Islamismus-Experte hat schon 2022 vor der Gefahr von Zusammenstößen gewarnt

Sammelpunkt „Grüne Mitte“ in Essen: Von dort aus zog der  Mob am Freitag zum Salzmarkt.
Sammelpunkt „Grüne Mitte“ in Essen: Von dort aus zog der Mob am Freitag zum Salzmarkt. © Unbekannt | privat

Worum geht es in dem eskalierten Konflikt zwischen Syrern und Libanesen? Woher kommt dieser abgrundtiefe Hass? Der Islamismus-Experte Ahmad Omeirate aus Berlin hat schon im März 2022 auf den Machtkampf hingewiesen und eindringlich vor der Gefahr von Zusammenstößen gewarnt.

Den Libanesen in Essen gehe es darum, ihre Reviere zu verteidigen, während im Gegenzug die syrische Seite dabei sei, ihre Einflusszone zu vergrößern, sagte Omeirate dem Portal „Der Westen“, und fügt hinzu: „Die Syrer sind strukturell schon nach wenigen Jahren so weit wie die Libanesen nach 40 Jahren. Die vorherrschenden Libanesen werden unruhig, es krachen Welten zwischen ihnen und den Syrern aufeinander.“

Historische Erfahrungen hätten diesen Konflikt verschärft, so wie einst die Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen. „Die syrischen Militärinterventionen im libanesischen Bürgerkrieg, die jahrzehntelange Besatzung des Libanon und letztlich das Attentat auf den damaligen Ministerpräsidenten Hariri haben bei Libanesen Aversionen gegen Syrer entstehen lassen“, sagte der Experte. Zudem empfänden die Libanesen im Vergleich zu den Neuankömmlingen eine Ungleichbehandlung durch Politik und Kommune.“

Viele Syrer sind aus Deir ez-Zor und leben in hierarchisch strukturierten Großfamilien

Noch vor zehn Jahren war die syrische Community im Ruhrgebiet kaum existent, jetzt ist Essen eine syrische Hochburg. Laut Presseamt lebten 2010 nur 523 Syrer in der Stadt. Mit der Flüchtlingswelle schnellte diese Zahl von 1.350 (2014) auf 4.487 (2015) in die Höhe und verdoppelte sich 2016 auf 8.893. Aktuell leben 15.659 Syrerinnen und Syrer in Essen.

Vieles spricht dafür, dass die syrische Community inzwischen größer ist als die libanesische. Letztere ist statistisch allerdings schwer zu fassen, denn zu den so genannten „Mardelli“ oder „Mhallami“ gehören auch Menschen mit türkischem, libanesischem oder deutschem Pass sowie Staatenlose.

Die syrischen Essener, so heißt es, stammten überwiegend aus der ostsyrischen Stadt Deir ez-Zor, durch die der Euphrat fließt: ein als archaisch charakterisierter Menschenschlag mit patriarchalisch und streng hierarchisch strukturieren Großfamilien. Immer wieder heißt es auch, dass der lange Bürgerkrieg sie hart und widerstandsfähig gemacht habe. „Sie gehen Konflikten nicht aus dem Weg und haben keine Angst vor dem Tod“, sagt ein kurdischer „Mardelli“.

Platzhirsch und Laufbursche – diese Arbeitsteilung gibt es nicht mehr

Als die syrischen Flüchtlinge 2015 nach Essen kamen, war die Arbeitsteilung klar: Die Libanesen sind die Platzhirschen und die Syrer ihre Laufburschen. Längst seien die Syrer selbstbewusst genug geworden, um sich auf Geschäftsfeldern breit zu machen, auf denen libanesische Clans bislang das alleinige Sagen hatten. Das betrifft legale Felder wie etwa Restaurants und Shisha Bars, aber auch illegale Geschäfte aus dem Spektrum Clan-Kriminalität wie Schutzgelderpressung, Handel mit unversteuertem Wasserpfeifen-Tabak, Menschenschmuggel.

Vor diesem Hintergrund ist auch der monströse Aufmarsch der Libanesen am Freitagabend in der Essener Innenstadt zu sehen: Es ist eine Machtdemonstration mit der Botschaft: Wir sind es, die in Essen (noch) das Sagen haben.

Wie schon in der Vergangenheit bei vergleichbaren Tumulten haben die libanesischen Clans in Essen auch bei dem „Großkampftag“ am Freitagabend Verstärkung aus ganz Deutschland erhalten. „Die Teilnehmer kamen aus Berlin, Hannover, Bremen, Solingen, Remscheid und anderen deutschen Städten“, berichten Augenzeugen. Handyfotos belegen auch, dass die „Grüne Mitte“ in der nördlichen Innenstadt am Freitagabend als Aufmarschplatz gedient hat.

Altenessener Moschee tritt Paralleljustiz-Verdacht entschieden entgegen

Im Internet kursiert der Video-Appell eines kurdischen Mhallami namens Nihat G., der in Essen eine beliebte Shisha Bar & Lounge an der Turmstraße betreibt. Seine Botschaft an die Syrer: „Es reicht.“ Insider sagen ihm nach, dass er die Lücke zu füllen beabsichtige, die Szene-Größen wie der in die Türkei abgeschobene Clan-Boss „El Presidente“ bislang innehatten.

Hier die Hitzköpfe, dort die Versöhner. Der Imam der Altenessener Moschee, Mohamed Amin Rachid, hat bereits am Tag nach den Tumulten auf Arabisch eine Videobotschaft verbreitet und zur Gesetzestreue aufgerufen.

Alaa El-Sayed zufolge habe es inzwischen erste Sondierungen mit der verfeindeten syrischen Seite gegeben. Entschieden tritt er dem Paralleljustiz-Verdacht hingegen, wonach Friedensrichter unter dem Dach der Moschee am Werke sein könnten. „Wir übernehmen nicht die Rolle von Friedensrichtern, sondern wollen die Situation beruhigen, damit Polizei und Justiz begangene Straftaten verfolgen können.“ Man habe die Polizei von sich aus über die Versammlung in der Moschee informiert.

Trotz der Entspannungssignale und starker Polizeipräsenz bleibt die Situation in Essen angespannt. „Die Lage kann in Essen zu jedem Zeitpunkt eskalieren“, sagt El-Sayed.

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