Essen. Vor 50 Jahren löste „Derrick“ seinen ersten Fall und machte eigentlich alles falsch. Warum die Serie trotzdem ein großer Erfolg wurde.
Derrick heißt der Mann, Stephan Derrick. Oberinspektor bei der Kripo in München ist er, als er am 20. Oktober vor 50 Jahren seinen ersten Fall löst. 280 weitere sollten folgen, obwohl die Kritiken zum Start verheerend ausfallen. Wie konnte das passieren?
Der 20. Oktober 1974. Ein Sonntag. Der Herbst ist eingezogen in Deutschland. Viele Wolken, etwas Regen, Temperaturen um die acht Grad. Fernsehwetter. Und so schalten um 20.15 Uhr 31 Millionen Menschen an ihrem TV-Gerät das ZDF ein, wo eine neue Krimiserie angekündigt ist. „Derrick“ heißt sie, wie der von Horst Tappert gespielte Oberinspektor und soll „mal was ganz anderes sein“.
Derrick: Zuschauer wissen anfangs mehr als die TV-Ermittler
„Waldweg“ lautet der Titel der ersten Folge. Es geht um den Mord an der Schülerin eines ländlich gelegenen Internats. Mörder ist einen ihrer Lehrer (Wolfgang Kiesling). Und „was ganz anderes“ heißt, dass die Zuschauer und Zuschauerinnen vor dem Bildschirm das alles mitangesehen haben und deshalb wissen, wer der Täter ist, als Derrick und sein Assistent Harry Klein (Fritz Wepper) nach knapp acht Minuten erstmals auf dem Bildschirm erscheinen.
„Umgekehrte Detektivgeschichte“ nennen Medien-Experten so etwas. Eine Geschichte also, in der es nicht um die Frage geht „Wer war es?“, sondern darum, „Wie wird der Täter überführt?“. Aber was beim mutmaßlichen Vorbild „Columbo“ großartig funktioniert, irritiert viele Zuschauer bei Derrick.
Fast noch schlimmer: Nahezu alle Kritiker vernichten die von „Fließband-Autor“ Herbert Reinecker erdachte Story, die eigentlich mittelfristig die Serie „Der Kommissar“ beerben soll. Der „Spiegel“ etwa höhnt, Reineckers Drehbuch sei „von der Raffinesse einer Lotto-Ausspielung“ und mault über Dialoge so „originell wie ein Wetterbericht“. Der Hauptdarsteller „tappere“ ratlos durch die Klischees und Ungereimtheiten stereotyp konstruierter Fälle „Ein ziemlicher Reinfall“, schimpft auch die Boulevardpresse. Und die Zeit fasst zusammen: Derrick sei der „schlechteste Kommissar, den es je gab“.
Kommissar mit nur einem Gesichtsausdruck
Aber weil die Folgen der ersten Staffel längst abgedreht sind, sendet das ZDF unbeirrt im Monatsrhythmus acht weitere Fälle. Noch bevor der letzte davon über den Bildschirm geflimmert ist, platzt Horst Tappert der Kragen. „Wenn sich mit den Büchern nichts ändert, spiele ich da nicht mehr mit.“ Herbert Reinecker knickt ein. Von da wird die Geschichte ganz auf den Hauptdarsteller zugeschnitten und wieder nach dem üblichen „Wer war‘s“- Muster gedreht.
Mit jeder Staffel wird die Serie von da an erfolgreicher. Einmal im Monat gibt es freitags um 20.15 Uhr fortan Trenchcoat und Tränensäcke im ZDF. Mit einer Hauptfigur, die vor allem in der Anfangsphase mit ihrer Rolex-Uhr am Handgelenk, der leicht getönten Pilotenbrille und den maßgeschneiderten Anzügen in manchen Momenten eher wie ein Krimineller als ein Kriminaler wirkt. Und die Tappert all die Jahre stets mit nur einem Gesichtsausdruck spielt.
Die Handlung fast aller Episoden ist mit dem Wort „gemächlich“ noch sehr freundlich beschrieben. Derrick ist Slow Crime, Ermittlung in Zeitlupe. Einmal streckt er mit einem gezielten Kinnhaken einen Gangster zu Boden, der ihn zuvor „Arschloch“ genannt hat. Ansonsten bewegt sich der Action-Anteil nur knapp über dem des Pausenbildes, das es damals noch gibt. Wo es beim „Einsatz in Manhattan“ oder „Auf den Straßen von San Francisco“ damals längst regelmäßig knallt und kracht, gibt es bei den Ermittlungen rund um München weder Verfolgungsjagden noch Schießereien. Dafür aber stets die Frage: „Hatte ihr Mann Feinde?“
Während sich die Welt immer stärker verändert, bleibt Derrick stets der Gleiche. Es gibt keine lineare Erzählweise damals, es gibt keine Überraschungen. Wer einschaltet, weiß, was ihn erwartet. So wie die Zuschauer es in den 1970er schätzen. Das Böse ist überwiegend in den Villen der Reichen im Münchner Vorort Grünwald zu Hause, wo die Schickeria der Stadt ihre Domizile hat.
Serienmusik stürmt die Hitparaden
Fast ein Vierteljahrhundert tauchten auch immer wieder dieselben Charaktere auf. Unternehmer sind geldgeil, Geliebte meist hörig, Aussteiger verwirrt, Zimmerwirtinnen neugierig – kein Klischee, das das Drehbuch nicht bedient. Gespielt aber werden diese Figuren all die Jahre von der Creme de la Creme der deutschen Film- TV- und Theaterschauspieler. Curd Jürgens, Lilli Palmer, Maria Schell, Horst Buchholz, Bernhard Wicki, Michael Degen, Iris Berben oder Christoph Waltz – kaum ein bekannter Name, der nicht irgendwann einmal für Derrick vor der Kamera steht. Als Täter, als Opfer, manchmal auch nur als Zeuge oder Verdächtiger. In Derrick mitspielen heißt gesehen werden.
Wie hoch die Einschaltquoten sind, merkt Ende 1980 auch der Sänger und Komponist Frank Duval. „Dem Mörder eine Kerze“ heißt die Folge, in der mehrfach sein Song „Angel Of Mine“ zu hören ist. Eine Woche später steht das Lied auf Platz 1 der deutschen Verkaufshitparade, wo es fünf Wochen nicht zu verdrängen ist.
Das Privatleben der Hauptfigur wird kaum thematisiert. Derrick lebt für seinen Beruf. Er ist beharrlich, oft nachdenklich, lächelt nie, zeigt kaum Gefühle. Zuverlässig ist er, aber wenig aufregend. Penibel, beharrlich. Ruhig im Gespräch, manchmal spießig, hin und wieder moralinsauer. Typisch deutsch – so wie die Deutschen ihre Kommissare damals am liebsten sehen. Und irgendwann gehört er einfach einmal im Monat zum Leben der Menschen – selbst wenn sich vor allem Jüngere bei den letzten Staffeln oft lustig machen über Dialoge und Handlung. Der Oberkommissar sei „die Verkörperung des Durchschnittsmenschen, der alles und jeden ernst nehme, sodass jeder und alle sich mit ihm identifizieren könnten“, hat Umberto Eco es in der SZ mal umschrieben.
Auch im Ausland. Gerade dort. Derrick verkörpere das Bild des guten Deutschen in der Welt, deswegen liebe man ihn, ist Tappert damals überzeugt. Jedenfalls kann das ZDF die Reihe in 102 Länder verkaufen - von der Mongolei bis Schanghai, von Australien über Indonesien bis auf die Fidschi-Inseln. Derrick ermittelt in München, aber eigentlich ermittelt er in der ganzen Welt – und fast überall holt er Rekordquoten. Italienerinnen wählen Tappert allen Ernstes zum erotischsten Mann des Jahres und echte Kriminalbeamte wollen, dass Derrick befördert wird.
Derrick: Abschied nach 281 Folgen
Das wird er auch. Aber erst in der 281. und letzten Folge im Oktober 1998. Tappert, damals bereits 75 Jahre alt, will aussteigen. Angeblich sind ihm die Dialoge in den Drehbüchern zu schwülstig und pathetisch geworden, die Storys zu verworren. Im letzten dieser Drehbücher entkommt der Oberkommissar nur knapp einem Anschlag und wird dann zu Europol versetzt. „Danke Harry, danke für alles“, sagt er, bevor er seinen Mantelkragen hochklappt und in der regnerischen Nacht verschwindet. Und Assi Harry, der, anders als lange gerne erzählt, in der Serie nie die Order bekommen hat, mal den Wagen zu holen, flüstert ihm kurzes „Mach es gut, Stephan“ hinterher. Reinecker und das ZDF versuchen die Lücke mit der Serie Siska“ zu schließen. Die kommt zwar auf 91 Folgen, erreicht aber nie die Popularität des Vorgängers.
Auch Horst Tappert kann keine großen Erfolge mehr feiern, bevor er im Dezember 2008 stirbt. Fünf Jahre später fällt ein Schatten auf das Leben des gebürtigen Wuppertalers. Da kommt heraus, dass er im 2. Weltkrieg bei der Waffen-SS war. Das ZDF zeigt sich „überrascht und befremdet“ und sagt: „Wiederholungen von ,Derrick’-Folgen sind nicht geplant.“ Das sind sie bis heute nicht. Kein Platz im Programm, sagt der Sender.
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