Essen. Eine Krankenkasse hat Millionen Klima- und Versichertendaten untersucht. Die Ergebnisse sind eindeutig - und alarmieren Kinderärzte.
Auch an diesem ungemütlichen Herbsttag kann sich der Kinder- und Jugendarzt Michael Achenbach noch gut an die heiße Zeit des Jahres erinnern. Ein junges Mädchen sei fiebrig zu ihm in die Praxis gekommen. Die Eltern vermuteten einen Infekt, doch der Grund für die hohe Körpertemperatur war ein anderer: die Hitze.
„Ich sehe das immer wieder auch im Notdienst und an den Tagen nach großer Hitze, dass Kinder und Jugendliche mit Unwohlsein, Kreislaufbeschwerden, Kopfschmerzen oder eben Fieber zu mir kommen“, sagt der im Sauerland niedergelassene Mediziner. „Das Thema Hitze wird virulenter in der Praxis. Und gleichzeitig sehen wir, dass die Angst vor den Folgen des Klimawandels in den Familien angekommen ist.“ Es gebe viel mehr Nachfragen, sagt der Kinderarzt, der auch Sprecher seines Berufsverbands in Westfalen-Lippe ist.
Neuer Report: Drei Viertel aller Kinder in Deutschland leiden bei Hitze
Wie stark Kinder und Jugendliche in Deutschland von Hitze betroffen sind, zeigt ein neuer Report der Krankenkasse DAK Gesundheit. Demnach leiden drei Viertel aller Kinder in Deutschland bei Hitze. Sie haben Schlafprobleme, Kopfschmerzen und sind erschöpft.
Besonders akut sind die Probleme an Hitzetagen mit mehr als 30 Grad. An solchen Tagen steigt das Risiko für Kinder um das Achtfache, dass sie wegen eines Hitzeschlags, wegen Krämpfen, Erschöpfung, Atmungsstörung oder einem akuten allergischen Notfall ärztlich behandelt werden müssen. Das gilt insbesondere für Grundschulkinder und nochmal mehr für Neugeborene und Säuglinge, die nach Hitzetagen viel häufiger ins Krankenhaus müssen oder unter Atmungsstörungen leiden.
„Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit. Die aktuellen Erkenntnisse zeigen, dass Hitze gerade für Kinder und Jugendliche ein enormes Gesundheitsrisiko birgt. “
„Kinder sind in Hitzeperioden gesundheitlich besonders gefährdet“, sagt die Medizinerin Maria Albers bei der Vorstellung des DAK-Reports am Freitag. Körper von Säuglingen und Kleinkindern etwa heizten sich durch Bewegung schneller auf, sie könnten ihre Körpertemperatur durch Schwitzen noch nicht vollends regulieren und sich noch nicht selbstständig mit Flüssigkeit versorgen. „Dadurch haben sie ein höheres Risiko für hitzebedingte Schäden wie zum Beispiel Sonnenstich, Hitzschlag oder Austrocknung“, so die Fachfrau.
Beschwerden schon an Tagen mit mehr als 25 Grad
In dem Bericht hat die DAK eine gigantische Datenmenge untersuchen lassen: Es wurden fast 800.000 versicherte Kinder und Jugendliche in den Blick genommen und sieben Millionen Praxisbesuche, Klinikaufenthalte oder Rezepte aus den Jahren 2017 bis 2022 sowie drei Millionen Temperaturdaten untersucht. Sogar Tage mit mehr als 25 Grad wirken sich dem Report zufolge negativ auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen aus - etwa bei Allergikern.
„Hitzeschutz ist Kinderschutz. Wir brauchen einen wirksamen Hitzeschutz von der Kita bis zur Schule, vom Spielplatz bis zum Fußballplatz.“
Das Dunkelfeld ist laut DAK noch viel größer, weshalb für die Studie auch Eltern und Kinder befragt worden sind. 70 Prozent der Eltern sagten, dass ihre Kinder Beschwerden bei Hitze hatten. Nur 13 Prozent der Kinder gaben aber an, deshalb bei einem Arzt gewesen zu sein. Ein Viertel der Kinder sorgt sich, dass die Folgen des Klimawandels ihrer Gesundheit schaden könnten.
>>> Hier geht es zum DAK Kinder- und Jugendreport 2024
DAK-Chef Andreas Storm mahnte einen wirksamen Hitzeschutz von der Kita bis zur Schule an. „Hitzeschutz ist Kinderschutz“, so Storm. „Die Uhr tickt. Die Zukunft macht uns Sorgen, da ein Temperaturrekord dem nächsten folgt.“
Hitzeschutz gefordert: Schattenspender und kostenfreier Zugang zu Trinkwasser
In NRW sieht auch der Kinderschutzbund Handlungsbedarf. „Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit“, sagt die Landesvorsitzende Gaby Flösser. In vielen Städten müsse der Hitzeschutz dringend verbessert werden. „Dazu gehören etwa beschattete Schulgebäude, Schattenspender auf Spiel- und Sportplätzen und kostenfreier Zugang zu frischem Trinkwasser. Am wichtigsten ist natürlich eine Politik, die dafür sorgt, die Erderwärmung effektiv zu begrenzen.“
Auch der Kinder- und Jugendarzt Michael Achenbach aus dem Sauerland sieht großen Bedarf. „Eine Grundschullehrerin sagte mir, selbst bei Hitzefrei könne sie die Kinder nicht nach Hause schicken, weil die Eltern ja arbeiten.“ Die Kinder würden also im Offenen Ganztag betreut - im aufgeheizten Schulgebäude. „Wenn wir Hitzefolgen vermeiden wollen, müssen wir uns an den Orten Hitzeschutz betreiben, an denen sich Kinder aufhalten.“ Da seien Städte und Kita-Träger gefragt.