Wuppertal. Wuppertal: Ein halbes Jahr nach der Bluttat an einem Gymnasium läuft der Prozess. Motiv des 17-jährigen Angreifers vollkommen unklar.
Es sind Stunden der Angst am Wuppertaler Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium: Amokalarm, Klassenzimmer werden verrammelt, Spezialeinsatzkräfte umstellen die Schule, Kinder weinen. Ein 17-Jähriger soll an jenem Donnerstag im Februar mit einem Messer vier Jugendliche und sich selbst verletzt haben. Warum? Das klärt seit heute das Wuppertaler Landgericht. Ein halbes Jahr nach der Tat hat am Mittwoch der Prozess gegen den Schüler begonnen, wegen seines Alters ist die Verhandlung nicht öffentlich.
Es ist zehn vor zehn am 22. Februar, als bei der Polizei der Notruf eingeht. Im Oberstufenraum des Elberfelder Gymnasiums sollen Schüler mit einem Messer verletzt worden sein, Einsatzkräfte rücken mit einem Großaufgebot an: Sie gehen von einer Amoklage aus. Am Tatort finden sie den 17-Jährigen vor, er hat mit Stichen in die Brust auch sich selbst verletzt. Zunächst sitzt er ruhig auf seinem Stuhl, dann, erzählt die Polizei später, soll er „in einen Erregungszustand“ geraten sein, gerufen haben, er wolle erschossen werden. Doch die Einsatzkräfte können ihm Handschellen anlegen, seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus sitzt der Deutsch-Türke in Untersuchungshaft.
Verletzte konnten am Folgetag wieder zur Schule
Die Polizei evakuiert und durchsucht die Schule, es dauert Stunden, bis alle Eltern ihre Kinder erleichtert wieder in die Arme schließen können. Drei Oberstufenschülerinnen stehen unter Schock. Die verletzten Mitschüler, sagt die Staatsanwaltschaft, hätten Stich- und Schnittverletzungen im Hals und am Kopf erlitten, der Täter habe unvermittelt zugestochen. Sie können zwar noch am selben Tag das Krankenhaus wieder verlassen und am nächsten Tag wieder zur Schule. Die Anklage aber wirft dem mutmaßlichen Täter nun versuchten Mord in vier Fällen vor, jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Er habe mit der Absicht gehandelt, den anderen Jugendlichen „tödliche Verletzungen zuzufügen“.
- Messerangriff in Wuppertal: Alle Schüler außer Lebensgefahr
- Fotostrecke: Attacke auf Schüler in Wuppertal
- Nach Amoktat in Wuppertaler Schule: So verlief die Festnahme
- Amoktat in Wuppertal: Was jetzt mit dem Täter geschieht
In einem Bekennerschreiben, das berichteten die Ermittler schon kurz nach den Ereignissen, soll gestanden haben, ein innerer Zwang habe den Jugendlichen zum Morden angehalten; Töten sei seine Bestimmung gewesen. Die Anklage spricht auch deshalb von einem Zustand „erheblich verminderter Schuldfähigkeit“. Eine Untersuchung durch einen von den Strafverfolgungsbehörden bestellten Sachverständigen soll der jetzt Angeklagte nach der Tat allerdings zunächst abgelehnt haben.
Verteidiger hat Zweifel: Messerstiche oder Schläge?
Sein Rechtsanwalt widerspricht dieser Version. Es habe sich keinesfalls um versuchten Mord gehandelt, sagt Mustafa Kaplan, bekannter Strafverteidiger aus Köln. Eine gefährliche Körperverletzung habe sein Mandant nie bestritten. Nach einem von ihm selbst in Auftrag gegebenen psychiatrischen Gutachten sei sein Mandant gesund. Es gehe von ihm keine Gefahr aus. Auch hatte Kaplan gegenüber dem „Focus“ früh gesagt, es könne sich statt Messerstichen vielmehr um Schläge gehandelt haben. Die Verletzungen der Opfer seien möglicherweise auf die scharfen Kanten des Messergriffs zurückzuführen. Kaplan hat demzufolge auch einen Rechtsmediziner beauftragt, der Schnittverletzungen in Zweifel ziehen soll.
Zum Motiv der Tat schossen schon am Tag selbst wilde Spekulationen ins Kraut. Von Satanismus war die Rede, alles soll geplant gewesen, neben einem Messer auch eine Schere zum Einsatz gekommen sein. Vieles ist offenbar frei erfunden, andere Mitschüler berichteten schon damals erstaunt, der Oberstufenschüler sei ein ruhiger, ehrgeiziger Junge, dem gute Noten wichtig gewesen seien. Ein Einser-Schüler, sogar Jahrgangsbester, aus gutbürgerlicher Familie. Verteidiger Kaplan sagt, er sei hochintelligent, aber eher in sich gekehrt. Was also hat ihn angetrieben? Dazu will sich der Anwalt nicht äußern, verweist auf die Beweisaufnahme durch das Gericht.
Lehrerkollegium will dem Schüler helfen
Jugendliche aus seinem Umfeld sollen sich seit dem Frühjahr bittend an den Rechtsanwalt ihres Mitschülers gewandt haben: Er solle ihm helfen, dass er schnell therapiert werden könne. Gegenüber dem WDR sagte auch die Schulleiterin des Gymnasiums, das Kollegium treibe die Frage um: „Was können wir tun, um ihm zu helfen, um ihn zu stützen, dass ihm nicht furchtbar Unrecht getan wird?“ Eine Rückkehr an die Schule könne man sich indes nicht vorstellen, das sei „das falsche Signal“.
Für den ersten Prozesstag, an dem zunächst die Anklage verlesen wurde, waren am Mittwoch erste Zeugen geladen, die Licht ins Dunkle bringen sollen. Das Gericht hat zehn Verhandlungstage bis zum 4. Oktober terminiert. mit dpa