Wuppertal. Ein 17-Jähriger soll am Donnerstag an einem Gymnasium Mitschüler niedergestochen haben. Die Schule erlebte eine halbe Stunde des Horrors.
Es ist 9.55 Uhr am Donnerstag, kurz nach der ersten großen Pause, als das Wuppertaler Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium den Amokalarm auslöst. Ein 17-Jähriger hat auf seine Mitschüler eingestochen, mit einem Messer, nach unbestätigten Informationen zusätzlich mit einer Schere. Vier oder fünf Menschen soll er so verletzt haben, genaueres ist auch Stunden nach der Tat noch unklar. Zwei Schüler aber soll er so schwer getroffen haben, dass sie auf der Intensivstation behandelt werden mussten. Um 10.20 Uhr fanden Polizisten den Täter, er lag blutend am Boden. Die lebensgefährlichen Wunden soll er sich selbst zugefügt haben.
„Alle drei Schüler sind außer Lebensgefahr“, teilte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft Wuppertal am Freitag auf Anfrage mit. Weitere Details mochte man bei Polizei und Staatsanwaltschaft am Vormittag nicht mitteilen und verwies auf eine für den frühen Nachmittag geplante Pressekonferenz in Wuppertal. Mit den Ermittlungen zum Fall wurde das Kriminalkommissariat 11 der Polizei Düsseldorf betraut.
Nach Medienberichten soll ein Streit auf dem Schulflur eskaliert sein. Laut einem Schreiben der Schulleitung leidet der 17-Jährige an einer psychischen Erkrankung. Über sein Motiv sei bislang nichts bekannt, erklärte Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) später im Innenausschuss des Düsseldorfer Landtags. Am Abend hieß es schließlich von Seiten der Polizei, dass sie bei dem Angriff von einer Amoktat des Verdächtigen ausgehe.
Hatte der Jugendliche die Tat schon länger geplant?
Ein Mitschüler erzählte der Bild-Zeitung, der Jugendliche habe zu einer Gruppe von Satanisten gehört. Diese hätten T-Shirts mit Pentagrammen darauf getragen und sich von anderen abgekapselt. Einsatzkräfte sollen dem Bericht nach einen Bekennerbrief gefunden haben, in dem der Jugendliche schreibt, ein innerer Zwang habe ihm befohlen zu töten. Dies sei seine Bestimmung gewesen. Dagegen wurde der Redaktion aus dem Umfeld der Schule berichtet, dass das Thema Satanismus in dem Zusammenhang frei erfunden und der Jugendliche sonst ruhig und höflich gewesen sei.
„Mein Sohn ist in der Stufe des Jungen, der das gemacht haben soll“, sagt dagegen Agnieszka T.. „Er hat mir erzählt, der Täter sei ein ganz normaler Junge. Für ihn habe nichts auf diese Tat hingedeutet.“ Allerdings habe der Sohn ihr berichtet, dass die Tat geplant gewesen sein könnte. „,Endlich hab ich‘s gemacht‘, soll er gerufen haben, so etwas in der Richtung“, ergänzt ihre Tochter Wiktoria. Sie war die erste, die mit ihrem Bruder telefoniert hat. Er blieb unverletzt, einer seiner Freunde soll zu den leichtverletzten Opfern zählen.
Eine halbe Stunde des Terrors
Fest steht: Fast eine halbe Stunde lang war die Situation unklar. Sämtliche Spezialeinheiten, die NRW aufbringen kann, eilten nach Wuppertal, weil nicht klar war, ob es sich um einen Einzeltäter handelte. Ein Polizeihubschrauber kreiste zwei Stunden lang über dem Schulhügel nahe des Hauptbahnhofs. Spezialkräfte in Tarnanzügen, vermummt und mit Maschinengewehren bewaffnet durchsuchen das Wilhelm-Dörpfeld-Gymnasium. Bis zum Nachmittag sichern Polizisten das Umfeld.
Es ist eine halbe Stunde des Terrors vor allem für die etwa 800 Schüler und 75 Lehrer. Eine Zehnjährige berichtet, wie die Durchsage der Rektorin ihr einen Schock versetzte: Mehrere Schüler seien verletzt. Die Türen sollten verriegelt werden. Ein Amoklauf? Die Lehrerin habe die Tür mit Stühlen verbarrikadiert, auch die Tische davorgeschoben. „Wir haben uns dann in die Ecke gelegt“, sagt das Mädchen. Keiner habe es gewagt zu telefonieren. Lange Minuten, länger als eine große Pause, schätzt sie. „Wir mussten leise sein.“ Viele hätten geweint.
Attacke auf Schüler in Wuppertal
„Zweimal hat es an der Tür gerüttelt, während wir am Boden lagen. Da hatten wir große Angst.“ Wahrscheinlich sei es nur die Polizei gewesen, die prüfen wollte, ob die Klasse sicher ist, sagt die Zehnjährige. „Aber wir wussten es nicht, während wir am Boden lagen.“ Und sie weiß noch immer nicht, wer da gerüttelt hat, während sie mit ihren Eltern auf ihre Schwester wartet.
Eltern bekommen lange keine Informationen
Die ist noch in der Sparkasse neben der Schule, wo Notfallseelsorger die Kinder betreuen und die Polizei sie befragt. Einige Kinder sind auch in der nahen historischen Stadthalle im Stadtteil Elberfeld untergebracht, wo ein Sammelpunkt eingerichtet ist für die Eltern und Schwestern und Brüder. Sie telefonieren, unterhalten sich, schauen besorgt, einige sind in Arbeitskleidung herbeigeeilt. Eine Mutter kommt gerade an, etwas außer Atem von dem Anstieg auf den Hügel. Ob es ihrem Sohn gut geht, weiß sie nicht, sagt sie. „Ich gehe aber davon aus. Ich habe keine Nachricht bekommen.“ So beruhigt auch ein Polizist eine weitere Mutter: „Die Familien der Verletzten wissen Bescheid.“
Die Kinder sollen zunächst keinen Kontakt zu ihren Eltern aufnehmen, was einige herbeigeeilte Familienangehörige aufbringt. „Toll, wie die das machen“, lobt eine andere Mutter. Die Eltern werden nun klassenweise aufgerufen und mit ihren Kindern zusammengeführt. In der Sparkasse bricht kurz Jubel aus, als eine Klasse sich freut, dass sie nach rund vier Stunden endlich frei sind zu gehen, den Horror hinter sich zu lassen.
„Dann haben wir alle geweint“
Lebibe G. kann endlich ihre Tochter Ersa in den Arm nehmen. Es ist bitter nötig. „Wir hatten schon Angst, das war ja das erste Mal, dass wir sowas erlebt haben“, sagt die Elfjährige. „Wir haben auch Tische vor die Tür gestellt. Neben der Tür ist Glas, da hat die Lehrerin eine Tafel vorgeschoben. Dann haben wir alle geweint.“
Ersa ist überzeugt: „Der Täter hat an der Tür gerüttelt, er hat auch mit dem Messer an der Tür gekratzt.“ Es ist ihre Interpretation, gesehen habe sie den Täter nicht: „Ich habe nur dieses Kratzen gehört.“ Erst deutlich später habe die Polizei die Tür geöffnet, offenbar mit einem Spezialschlüssel. „Sie haben gesagt: Nun seid ihr in Sicherheit.“ Ihre Mutter und ihr Vater nehmen sie noch einmal in den Arm. „Ich bin immer noch geschockt und kann‘s nicht glauben.“
Erleichterung beim Wiedersehen
„Alles gut?“, ruft ein Mädchen, als eine Klassenkameradin mit ihrer Mutter vorbeieilt. „Jetzt ja“, antwortet die Mutter. Nun dürfen die Kinder einer weiteren Klasse die Sparkasse verlassen. Eltern drücken Schultern, rubbeln Rücken. Einige Kindern sind blass, wirken benommen, andere freuen sich so, dass sie lachen. Ein Mädchen stellt nach, wie ein Polizist mit der Waffe im Anschlag den Gang gesichert hat.
NRW-Schulministerium Dorothee Feller erklärte am Donnerstagabend: „Die Tat, die sich heute Morgen in Wuppertal ereignet hat, ist schrecklich, sie macht mich fassungslos. Meine Gedanken sind bei den verletzten Schülerinnen und Schülern, bei ihren Eltern, Familien, Freunden und natürlich auch bei den Lehrerinnen und Lehrern. Ich danke allen Einsatzkräften, die vor Ort tätig sind und waren. Wichtig ist, dass die Polizei nun die genauen Hintergründe dieser Tat aufklärt. Die Schulpsychologie ist vor Ort im Einsatz und koordiniert die psychologische Betreuung aller am Schulleben Beteiligten. Die Lehrkräfte, Schülerinnen, Schüler und Eltern bekommen jetzt jede Unterstützung, die sie brauchen.“
(mit dpa/epd)