Trockenbrück/Browary. Anna Schneider aus Trockenbrück stammt aus der Ukraine. Ihre Schwester, Mutter und beste Freundin befinden sich im Kriegsgebiet.
„Sie hat nicht mehr geschafft zu fliehen.“ Anna Schneiders Stimme zittert. Ihre Augen sind glasig. Als sie weiterspricht, steigen immer wieder Tränen in ihre Augen. Es ist die schwierigste und härteste Zeit im Leben der Lennestädterin. Denn die Schwester der gebürtigen Ukrainerin, die bis 2013 selbst dort gewohnt hat, lebt nach wie vor in dem Land. In einem Land, in dem nun Krieg herrscht. „Damit hat einfach keiner gerechnet“, sagt Anna Schneider.
Es ist Donnerstag, der 24. Februar, im Jahr 2022. Der Tag, der die Welt kurzzeitig stillstehen lässt. Der Tag, an dem Russland die Ukraine angreift. Und mittendrin: Anna Schneiders Schwester, ihre Mama sowie ihre beste Freundin und viele Arbeitskollegen.
Kein anderer Ausweg aus Kiew
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Militärische Konflikte habe es zwar insbesondere im Osten des Landes schon lange Zeit gegeben, erzählt die 43-Jährige. Doch man lebte jahrelang in diesem Zustand ohne aggressiv angegriffen zu werden, geschweige denn sich im Krieg zu befinden. Und dann plötzlich ändert sich alles.
Die Schwester der Lennestädterin lebt in der Stadt Browary, die unmittelbar neben Kiew liegt. „Die Menschen hatten nur einen Tag, nur den 24. Februar, zum Fliehen“, erzählt Anna Schneider. Doch um in den Westen zu fliehen, musste man in Kiew eine Brücke überqueren, denn die Stadt liegt auf beiden Ufern des Dnepr, der Richtung Süden zum Schwarzen Meer fließt. Und genau das war das Problem. „Die Straßen und die Brücken waren verstopft.“ Zu viele Menschen wollten innerhalb eines Tages fliehen. Und dann, nur einen Tag später, am 25. Februar, wurden alle Brücken für Zivilisten gesperrt. Sie wurden mit Militär besetzt, keiner darf diese mehr überqueren. „Meine Schwester dachte zunächst auch, dass sich die Lage wieder beruhigen würde.“ Doch entgegen der Hoffnung der Ukrainer spitzt sich die Situation immer weiter zu. Und für Anna Schneiders Schwester und viele andere Menschen, die dort leben, gibt es schlichtweg keinen anderen Ausweg.
Schlaflose Nächte für die Lennestädterin
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„Wir haben jeden Tag Kontakt. Ich rufe sie jeden Tag an oder wir kommunizieren über WhatsApp“, sagt die Lennestädterin. Die Situation sei unerträglich. „Ich habe zwei Tage durchgeweint, bis ich gemerkt habe, dass das auch nichts bringt.“ Nun hat sich die zweifache Mama erst einmal Urlaub genommen für einige Tage, um das Geschehene auch nur ansatzweise verarbeiten zu können und ein wenig zurück ins Leben zu finden. Ihre Schwester, zu der sie immer ein sehr, sehr gutes Verhältnis hatte, berichtet ihr jeden Tag von neuen Ereignissen. „Ihre Nachbarn wohnen in einem Hochhaus mit einem Keller. Dort schlafen alle gemeinsam. Der Zusammenhalt ist groß. Keiner ist alleine“, sagt Anna Schneider. Vor Ort helfe man sich gegenseitig, versuche sich mit Essen und Medikamenten zu versorgen, mit den Kindern zu spielen und wenigstens für ein paar Minuten des Tages an etwas anderes zu denken als an heulende Sirenen und den Krieg. Jeden Abend geht es für Anna Schneiders Schwester und die anderen Betroffenen in den Keller zum Schlafen. „Sie sind alle froh, wenn sie am nächsten Tag die Augen wieder aufmachen.“ Es ist ein ständiges Leben in Angst. In Todesangst.
Erst in der Nacht von Montag auf Dienstag gab es wieder Explosionen in der Heimat von Anna Schneiders Schwester. Die russische Armee soll nach Medienberichten sogenannte Aerosolbomben eingesetzt haben. Diese auch Vakuum- oder Druckluftbomben genannten Geschosse entfachen einen Feuersturm, der gewaltige Mengen Sauerstoff aus der Luft zieht und so ein Vakuum erzeugt. Durch die Druckwelle und die große Hitze wird alles im Umkreis von rund 150 bis rund 300 Meter zerfetzt. Der Brennstoff kann sogar in Bunker eindringen, was sie auch für die Zivilbevölkerung in den Städten so wahnsinnig gefährlich macht. Zudem hält die Druckwirkung wesentlich länger an als bei einem konventionellen Sprengstoff. Endgültig bestätigt sei der Einsatz dieser Waffen jedoch nicht. Doch schreckliche Bilder und Videos erhält Anna Schneider dennoch jeden Tag. „Ich kann nicht mehr schlafen, ich gucke immer auf mein Handy, lasse es auf laut. Auch wenn ich hier in Deutschland bin, bin ich mit meinen Gedanken nur in der Ukraine. Ich wache jeden Tag auf und frage mich, ob das wirklich real ist.“
Lage im Westen der Ukraine spitzt sich zu
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Es ist eine unvorstellbare Situation. Unvorstellbar schrecklich. Auch Anna Schneiders Mama wohnt noch in der Ukraine. „Sie wohnt in Lemberg, sie ist schon 85 Jahre alt. Für sie war es zu anstrengend zu fliehen.“ Die Lennestädterin versucht jetzt mit allen Mitteln zu helfen. Anderen Menschen zu helfen, sei gleichzeitig auch für sie selbst eine große Stütze. „Es gibt jetzt einfach andere Prioritäten.“ Über Social Media hat sie weitere Ukrainer gefunden, die sich als Gruppe ehrenamtlich engagieren. Gemeinsam sammeln sie nun Spenden, um insbesondere den geflüchteten Frauen und Kindern, Essen und Medikamente ermöglichen zu können. „Die meisten Flüchtlinge sind Frauen mit ihren Kindern, die sind teilweise seit Tagen unterwegs, krank, verletzt und einfach erschöpft.“
Anna Schneider hat gemeinsam mit den Ehrenamtlichen ein PayPal-Spendenkonto eingerichtet, auf das auch Sie spenden können per PayPal@me an: @AnnaSchneider1979. Jede Spende geht unmittelbar an die betroffenen Menschen in Lemberg, die Stadt unmittelbar der polnischen Grenze. „Die Lage dort ist wirklich sehr, sehr kritisch. Meine beste Freundin wohnt dort und erzählt mir täglich davon.“ Auch sie engagiert sich und setzt sich für die Betroffenen ein. Auch wenn es der Lennestädterin, die mit ihrer Familie in Trockenbrück wohnt, wahnsinnig schwer fällt, über das Thema zu sprechen, verliert sie nicht die Hoffnung. „Die Anteilnahme ist wirklich riesig. Das hilft auch den Menschen vor Ort.“
Sie wünscht sich nichts mehr, dass alles gut wird, dass der Krieg ein Ende findet und sie ihre Liebsten bald wieder in die Arme schließen kann. „Trotzdem geht das Leben ja auch weiter. Daher bin ich meinem Mann so dankbar, dass er mich so unterstützt und mir so sehr hilft“, sagt die zweifache Mutter und für einen ganz kurzen Moment huscht ein Lächeln über ihr Gesicht.