Hagen. Ein 100-Jähriger und ein 99-Jähriger aus Hagen treffen sich regelmäßig bei einem Glas Rotwein – die Geschichte einer besonderen Freundschaft.

Es sind viele Schritte. Schnelle Schritte sogar. Und jeder Schritt für sich betrachtet, kommt einem kleinen Wunder gleich. Dr. Gerhard Meinck kann wieder stehen. Er kann wieder gehen. Noch mit einem Wagen, den er neben dem Rollator von Wilhelm Schulte über den Flur der Station 32 im Josefs-Hospital in Altenhagen schiebt, bald aber wohl ohne. Und so wird dies die Geschichte von einem Wunder, eine von 42 Stufen und letztlich die von einer wunderbaren Freundschaft.

Schmerzen am Arm, eine schlimme Entzündung, starke Medikamente, vielleicht Gürtelrose. So genau konnte man das nicht diagnostizieren. Spielt aber vielleicht auch keine große Rolle, wenn man wie Dr. Gerhard Meinck 100 Jahre alt ist. Seit Weihnachten konnte sich der ehemalige Geschichtslehrer, der in Hagen unter anderem am Knabengymnasium in Haspe und am Ricarda-Huch-Gymnasium unterrichtet hat, nicht mehr bewegen, lag nur noch im Bett. Schlapp, antriebslos, müde.

Tolle Leistung des Klinik-Teams

„Vor acht Tagen ist Gerhard Meinck zu uns gekommen“, sagt Dr. Andreas Backes, Chefarzt der Geriatrie, „dass wir ihn so schnell wieder mobilisieren konnten – ja, das hat schon was von einem Wunder. Es ist eine tolle Teamleistung von Pflegekräften, Therapeuten und Ärzten. Dr. Meinck ist geistig total rege. Das bietet immer eine gute Grundlage, um jemanden wieder auf die Beine zu kriegen. Und letztlich kommt sein eigener starker Wille hinzu.“

Der Wille, wieder aus dem Bett zu kommen, wieder zu stehen, wieder zu gehen, hat Gerhard Meinck angetrieben. Der Wille, diese 42 Stufen, die zu seiner Wohnung führen, hinab und wieder hinauf zu kommen. Der Wille, so wieder seinen Freund Wilhelm Schulte, 99 Jahre und fünf Monate alt, treffen zu können. Endlich wieder gemeinsam ein Glas Rotwein trinken zu können. Dieser Wille hat gesiegt – so gut wie.

Wasser statt Rotwein im Krankenzimmer

2167 Hagen sind 90 Jahre und älter

In Hagen leben mittlerweile 2167 Menschen, die 90 Jahre und älter sind. 569 Männer sind 90 Jahre und älter, 1598 Frauen.64 Hagener in dieser Altersgruppe haben einen ausländischen Pass. Der Anteil liegt bei 3,0 Prozent.Hingegen liegt der Ausländeranteil in der Gesamtbevölkerung bei 20,8 Prozent.Insgesamt leben nach offizieller Statistik (2020) 194.938 Menschen in Hagen. Die meisten Hagener, 15.682, sind zwischen 55 und 59 Jahren alt.

Es gibt Wasser statt Rotwein auf Station 32. Es ist ja auch nicht Abend wie sonst, wenn sich die beiden Freunde, die einander höflichst und respektvoll siezen, zum Austausch treffen. Es ist Mittag. Und es ist das erste Wiedersehen seit langer Zeit. „Dass sie Herrn Dr. Meinck wieder hingekriegt haben – das ist der größte Gefallen, den man mir in meinem Leben noch tun konnte“, sagt Wilhelm Schulte und lächelt.

Ein Lächeln, das man spüren kann, das man aber auch sehen kann, weil die beiden Freunde, die beide gegen Corona geimpft sind und zur Sicherheit trotzdem vor dem Treffen auch noch (negativ) getestet wurden, irgendwann ihre Corona-Masken abnehmen können.

Das Fundament einer Freundschaft

Auch interessant

Sie sitzen beisammen und sprechen über das, was sie verbindet. Über das, was das Fundament einer tiefen, innigen Freundschaft ist, wie nur zwei Menschen wie sie – beide älter als 99 Jahre – sie leben und erleben können. „Wir haben beide Abitur gemacht und standen schon wenige Tage später auf dem Kasernenhof“, sagt Wilhelm Schulte. „Wir mussten in diesen idiotischen Krieg. Gefragt hat uns keiner.“

Schulte wird viermal schwer verwundet, erleidet Schussverletzungen unter anderem in Leber, an der Hand und an der Schulter. Aber er überlebt. Meinck („Ich habe großes Glück gehabt, dass sie immer daneben geschossen haben“) bleibt unverletzt. Beide geraten in russische Gefangenschaft, erleben nach dem Krieg eine zweite Hölle und kehren erst Jahre später nach Hagen zurück.

Geschichten einer aufblühenden Stadt

Auch interessant

Über den Weg laufen sie sich in all den Jahrzehnten in einer „aufblühenden Stadt mit tollen Geschäften und viel Kultur“ vielleicht über den Weg. Allein: Sie merken es nicht. Erst als Dr. Doris Beißel, Leiterin der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie, den einen operiert und aufgrund der Freundschaft ihres verstorbenen Vaters zu dem anderen um dessen Einsamkeit weiß, beschließt die Ärztin, die beiden Herren im besten Alter bei einem Abendessen in Haus Haßley zusammenzubringen.

Die zarte Saat geht auf, trägt Früchte, und es entsteht eine Freundschaft, die geprägt ist von vielen Gemeinsamkeiten, von gegenseitiger Zuneigung und von großem Respekt. „Es ist so schön, sich mit Dr. Meinck über Geschichte zu unterhalten. Er weiß so viel. Das macht mir Spaß“, sagt Wilhelm Schulte. „Ich könnte jederzeit aus dem Stegreif ein Referat über den Wiener Kongress halten“, sagt Dr. Meinck und lächelt, „aber fragen Sie mich mal, in welchem Jahr ich wo mit meiner Frau im Urlaub war. . .“

Schon bald will er 42 Stufen schaffen

Er kann wieder gehen: Dr. Gerhard Meinck (Zweiter von links) über mit dem Physiotherapeuten Siegfried Blum (links), Dr. Andreas Backes, Chefarzt Geriatrie, und seinem Freund Wilhelm Schulte.
Er kann wieder gehen: Dr. Gerhard Meinck (Zweiter von links) über mit dem Physiotherapeuten Siegfried Blum (links), Dr. Andreas Backes, Chefarzt Geriatrie, und seinem Freund Wilhelm Schulte. © WP | Michael Kleinrensing

Diese anregenden, diese freundschaftlichen Gespräche haben beide so sehr vermisst. Durch diese verfluchte Corona-Pandemie, in der an ein Treffen ohne Impfschutz lange Zeit nicht zu denken war, und dann durch die Zeit der Krankheit, die Dr. Gerhard Meinck mal so richtig aus der Bahn geworfen hat. „Wir haben in diesen Monaten immer mal telefoniert“, sagt Gerhard Meinck, „aber das ist doch nicht dasselbe, als wenn man bei zwei Gläsern guten Rotweins zusammensitzt.“

Es gibt Wasser auf Station 32. Aber schon bald kommt wieder eine Flasche guten Rotweins auf den Tisch. Dr. Gerhard Meinck wird dann ein Taxi rufen, um zu seinem Freund Wilhelm Schulte zu fahren. Er wird die 42 Stufen von seiner Wohnung zur Haustür hinabsteigen. Und jeder Schritt kommt einem kleinen Wunder gleich. . .