Hagen. Inklusion sei eine gute Sache, sagt Caroline Riemer. Die Mutter eines behinderten Jungen aus Hagen berichtet, wie zermürbend die Realität ist.

Alle seine Freunde von der Grundschule sind noch zusammen. Sie wechselten im letzten Jahr gemeinsam zu einer Gesamtschule in Hagen. Nur er nicht. Er durfte nicht. Denn Tim Riemer (11) ist behindert. Und für behinderte Kinder – Inklusion hin oder her – gelten andere Gesetze.

Tim wohnt mit seinen Eltern in Haspe. Zur Schule aber geht er im Stadtteil Boelerheide, was seiner Mutter täglich zwei mindestens halbstündige Fahrten quer durch die Stadt abfordert, um ihn hinzubringen und wieder abzuholen. Tim leidet seit seiner Geburt an spastischer Cerebralparese, er kann nicht selbstständig stehen, geschweige denn laufen. „Aber sein Kopf ist gesund“, sagt Caroline Riemer (41): „Tim ist ein schlauer Junge.“

Aufzug darf im Falle eines Feuers nicht genutzt werden

Als im Sommer 2020 der Wechsel von der Grundschule Hestert zu einer weiterführenden Schule anstand, habe ihr die Stadtverwaltung die Realschule Heinrich Heine in Boelerheide als behindertengerecht „verkauft“, berichtet die Mutter: „Weil es dort einen Aufzug gibt, mit dem Tim als Rollstuhlfahrer in alle Klassenräume gelangen kann.“

Das stimmte auch – jedenfalls in der Theorie. Doch die naturwissenschaftlichen Fachräume liegen in der ersten Etage. Zwar gibt es tatsächlich einen Aufzug, mit dem Tim hinauf- und hinuntergelangt, aber im Notfall – etwas wenn ein Feuer ausbrechen sollte – dürfte er den Lift nicht nutzen. Dann wäre ihm die Flucht aus dem ersten Stock verwehrt.

Als die Feuerwehr während einer Begehung darauf hinwies, untersagte Schulleiterin Corinna Osman Tims Klasse den Unterricht im oberen Stockwerk: „Wenn nicht gesichert ist, dass die Kinder im Notfall ins Freie gelangen, kann ich eine solche Verantwortung nicht übernehmen.“

Fachunterricht im Erdgeschoss

Ein Jahr lang fand der Fachunterricht im Klassenraum im Erdgeschoss statt. Inzwischen wurden sogenannte Treppensteiger eingebaut, in die der Rollstuhl eingehängt und mit denen Tim hinabtransportiert werden kann. Doch dass es länger als ein Jahr gedauert hat, bis dieses Hilfsmittel endlich installiert wurde, ist für Caroline Riemer symptomatisch für den Umgang mit behinderten Kindern in Hagen: „Alles wird einem schwer gemacht. Immer muss man kämpfen. Es ist ein ewiger Kampf, und er zermürbt mich.“

Wie ein roter Faden ziehe sich die Ungleichbehandlung durch ihr Leben mit Tim. Als er mit sechs Jahren eingeschult wurde, habe ihr die Stadtverwaltung ein Verzeichnis aller 30 Grundschulen in Hagen vorgelegt mit der Aufforderung, sich eine auszusuchen, die behindertengerecht sei. Schließlich landete sie an der Grundschule Hestert, deren Rektor Michael Schnücker den kleinen Tim schließlich aufgenommen habe: „Ohne ihn hätte ich nicht weiter gewusst.“

Mutter will Verständnis statt Mitleid

Sie wolle kein Mitleid, sagt die Mutter. Nur Verständnis. Nie laufe etwas glatt, wenn es um Tim gehe. Die Krankenkasse etwa lehne jeden Antrag ab, den sie stelle. Als sie einen neuen Rollstuhl für ihren Sohn beantragte, habe die Kasse geantwortet, Tim habe doch einen Rollstuhl, wieso denn ein neuer her müsse.

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Und Caroline Riemer musste erklären, dass Tim drei gewesen sei, als er den Rollstuhl bekommen habe, dass er nun acht sei, dass ein Kind in fünf Jahren enorm wachse und ihr Sohn kaum mehr in den alten Stuhl hineinpasse. Nachdem mehrere Schreiben dieser Art gewechselt worden waren, bewilligte die Kasse endlich den neuen Rollstuhl.

Die Krankenkasse ziert sich gern

Oder als sie den Treppenlift für Zuhause bestellte, da habe sich die Krankenkasse auch geziert und gefragt, wieso sie denn mit einem behinderten Kind in einem Haus mit Treppe wohne, sie könne doch genauso gut umziehen. Schließlich habe sie 8000 der 12.000 Euro für den Einbau des Lifts selbst übernehmen müssen, sagt Caroline Riemer.

Gymnasien nehmen keine Förderschüler auf

Im Bereich der weiterführenden Schulen in Hagen bieten alle drei Gesamtschulen (Eilpe, Haspe, Helfe), beide Sekundarschulen (Altenhagen, Remberg), alle Realschulen (Halden, Haspe, Boelerheide, Hohenlimburg) und beide Hauptschulen (Haspe, Boelerheide) inklusiven Unterricht an.Die sieben Hagener Gymnasien nehmen keine Förderschüler mehr auf – es sei denn, der betreffende Schüler strebt das Abitur an. Das soll verhindern, dass ein Gymnasium von Schülern besucht wird, die dieses Ziel nicht erreichen können.

Nein, diese Mutter will kein Mitleid. Sie will einfach einmal darauf hinweisen, dass das mit der Inklusion ja eine gute Sache sei. In der Theorie. Dass die Wirklichkeit aber eine ganz andere sei. Dass man immer kämpfen müsse mit einem behinderten Kind. Dieser ewige Kampf, den ein Außenstehender nicht sieht, er zermürbe sie, sagt Caroline Riemer. Manchmal wolle sie einfach nicht mehr.

Aber da ist ja Tim, ihr Sohn. Und dann weiß sie, dass es sich lohnt, die Schikanen und die Unbill zu ertragen.