Arnsberg. Unsere Redakteurin ist einen Tag lang unterwegs in einem Rettungswagen. Sie merkt: Die Retter lieben ihren Job und arbeiten hochprofessionell.
Eigentlich fühlt es sich an wie ein Ritt auf der Holz-Achterbahn. Doch dieses Schwergewicht fährt nicht zum Spaß. Es bringt Tobias Bohn und Vincent Couley zum Einsatzort. Etwa zwölf Minuten ohne Sonderrechte. Das heißt, ohne Blaulicht und Horn.
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Keiner ist je ohne ein Stofftier aus dem Rettungswagen gekommen, sagt Tobias Bohn zu dem verletzten Kind. Ein Versuch, ihm die Angst zu nehmen. Benommen sitzt es auf dem Stuhl. Blutverklebtes Haar. Einige Tropfen sind auf seinem Pullover. Einige an seiner Hand. Das 9-Jährige blutet am Hinterkopf. Ist vom Bett gefallen, wie es im Notruf heißt. Zuerst die Orientierungsfragen. Alles gut. Während Vincent den Kopfverband vorbereitet, lenkt Tobias Bohn das Kind ab. Er spricht mit ruhiger Stimme. „Du bist echt tapfer, so tapfer wäre ich in dem Alter nicht“, sagt er. Doch als er das Krankenhaus erwähnt, beginnt das Kind zu weinen.
Notfallsanitäter Tobias Bohn (32) und Rettungssanitäter Vincent Couley (21) sind seit 7 Uhr im Dienst für die städtische Rettungswache Arnsberg. Bis abends um 19 Uhr sind sie eines von vier RTW-Teams. Die Tagschicht. „Normalerweise fahren wir 24-Stunden-Schichten“, sagt Tobias Bohn, „Vincent und ich sind aber heute in die Tagschicht eingeteilt – und somit nur zwölf Stunden im Dienst.“ Die erste halbe Stunde geht für den Fahrzeugcheck drauf. Insbesondere das Material und die Funktionalität der technischen Geräte werden überprüft. „Kaum auszudenken, wenn die Geräte am Einsatzort nicht funktionieren“, sagt Vincent Couley. Passt – der Wagen kann rollen.
„Kinder müssen warm eingepackt werden - verlieren schnell Temperatur“
Und das muss er auch, schon wenige Minuten später – zum Kind. Es geht mit dem Fünftonner einmal quer über den Berg. Es schaukelt im Wagen, ruckelt und klappert. „Das sind unsere alten Einsatzfahrzeuge“, sagt Vincent. „Die neuen RTW sind moderner und um einiges ruhiger.“ Er ist Rettungssanitäter, fährt den RTW und arbeitet seinem Kollegen zu.
„Nach der Schule habe ich ein Freiwilliges Soziales Jahr im Krankenhaus absolviert“, sagt er, „ich helfe gerne Menschen – und mein bester Freund ist Rettungssanitäter. So habe ich meinen Traumjob kennengelernt.“ Sein Plan: die dreijährige Notfallsanitäter-Ausbildung. Praxisanleiter der Azubis ist Tobias Bohn. „Ich habe Sanitäts- und Rettungsmedizin als Bachelor of science studiert“, sagt er, „da ich den Rettungsassistenten bereits hatte, konnte ich die Notfallsanitäter-Ausbildung verkürzen.“ Seine berufliche Karriere beginnt 2016 in Bonn. Seit eineinhalb Jahren ist er in Arnsberg.
Zurück zur Platzwunde: Die beiden Männer in Blau-Gelb schnappen sich Notfalltasche und C3-Gerät. „Ein Monitor zur Überwachung sowie eine Defibrillationseinheit“, erklärt Tobias. Nun spricht niemand. Die Gesichter werden ernst. So, als bereiteten sich Tobias und Vincent auf das Schlimmste vor.
Glück gehabt. Das Kind hat nur eine kleine Platzwunde. „Das wird nicht einmal genäht“, versucht Tobias dem Kind seine Angst vor dem Krankenhaus zu nehmen. „Das wird geklebt.“ Große Augen. „Ja, dafür gibt es einen Kleber.“ Im RTW angekommen, wird das Kind in einer Decke eingewickelt auf die Liege gelegt und angeschnallt. „Kinder müssen warm eingepackt werden, verlieren ansonsten schnell Temperatur. Die Körper können die Temperatur schlechter halten.“, so Tobias, „Unterkühlung ist in allen Notfällen kontraproduktiv.“
Abfahrt. Im Klinikum geht Tobias mit dem Kind rein. Ebenso auch Grisu – der kleine Drache, der Feuer löscht –. Denn Tobias hat seine eigenen Worte nicht vergessen. „Ohne Stofftier verlässt kein Kind den RTW.“ Vincent beginnt, genau diesen zu reinigen. „Das verbrauchte Material muss nachgefüllt werden“, sagt er, „nicht, dass wir hinterher an einem anderen Einsatzort stehen und etwas fehlt.“ Auch das C3-Gerät wird gereinigt, ebenso wie die Liege. „Alles andere wäre unhygienisch.“ Inzwischen ist Tobias zurück. „Wurde nur geklebt“, sagt er, „ihm geht’s gut, es kuschelt mit dem Stofftier.“
Durchschnittlich 17 Notfälle am Tag: Das geht an die Substanz
Tobias und Vincent sind zwei von 50 Rettungs- und Notfallsanitätern, neben zehn Azubis im Bereich Notfallsanitäter an den vier Arnsberger Standorten. Täglich sind vier Rettungswagen im Einsatz sowie einer in Reserve. „Es gibt Tage, an denen man nur zwei oder drei Einsätze fährt“, erklärt Tobias, „dann wiederum aber auch Tage, an denen alle Wagen non-stop unterwegs sind.“ 6500 Einsätze zählt Ralf Luig, Sachgebietsleiter Rettungsdienst, für das Jahr 2023. Das sind durchschnittlich rund 17 Notfälle am Tag.
Dieser Tag geht ruhig weiter – zunächst mit einem gemeinsamen Frühstück. Berufsfeuerwehr und Berufssanitäter sitzen am prall gefüllten Esstisch. Lockere Gespräche, hier und da. „Während einer 24-Stunden-Schicht müssen wir auch mal etwas essen“, sagt Tobias, „das gemeinsame Frühstück ist gut und wichtig. Abends wird dann auch gekocht.“ Nun – solange bis der Pieper losgeht.
Das Team splittet sich. Die einen nutzen ihre Ruheräume, um etwas abzuschalten – mit einem Buch. Tobias malt auch gerne mal seine Modelle an. Ein Hobby. Manche schließen für ein paar Minuten die Augen. Tobias und Vincent genießen die Sonne unter dem Segel, das sich direkt neben dem Container befindet, in der aktuell die Wache untergebracht ist. Mit dabei der Teamleiter, der ansonsten für einen sorgenfreien Dienstplan und Dienstbetrieb sorgt.
„Es gibt Leute, die unseren Job echt chillig finden“, sagt Tobias, „und wenn man uns jetzt beobachten würde, könnte man das auch glauben. Doch das kann sich so schnell ändern.“ Er zeigt seinen Pieper, den jeder an der Hose trägt. Wenn dieser anschlägt, geht’s los. Gesagt, getan. Just schlägt er an.
Ein Brandeinsatz am Kindergarten Heilig Kreuz – unklarer Brandgeruch. Menschen könnten in Gefahr sein. „Großlage“, wie die Feuerwehr und die Rettungssanitäter es nennen. Nun wird es trubelig. Während Tobias und Vincent schnellen Fußes zu ihrem RTW gehen, rasen die „Männer in Blau“ an ihnen vorbei. Im Nullkommanichts tragen sie ihre Einsatz- und Schutzkleidung.
Die MANV-Kladde: Wer wird zuerst versorgt?
Die Fahrt ist kurz. Mit Sonderrechten - Blaulicht und Horn. Tobias und Vincent sprechen sich in der Fahrerkabine über die Strategie vor Ort ab. Hörbar ist das hinten im RTW nicht. Zu laut ist die rasante, ruckelige Fahrt. Ihre Gedanken kreisen um diese als „MANV“ gekennzeichnete Situation. MANV ist die Abkürzung für „Massenanfall von Verletzten“. Denn 60 Kinder befinden sich aktuell in der Kita.
Hinzugerufen auch der Notarzt. Zwei Notarztwagen sind täglich im Einsatz – plus auch hier ein Wagen auf Reserve. Normalerweise liegt die Entscheidung, einen Notarzt hinzuzuziehen, bei Tobias. Hier entscheidet die Großlage. Im letzten Jahr hatten Arnsbergs Notärzte 2400 Einsätze.
In der Hand trägt Tobias die sogenannte MANV-Kladde. Farbige Karten. Grün, gelb und rot. „Kurz gesagt: Wenn jemand geht, steht und atmet, erhält er die grüne Kennzeichnung. Wenn jemand körperlich verletzt, aber noch ansprechbar ist, die gelbe. Und wenn jemand nicht mehr spricht, die rote“, erklärt er. So wird vorab entschieden, wer zuerst behandelt wird. „Die Menschen werden dann natürlich noch einmal durch den Notarzt komplett gesichtet.“
„Das möchte niemand erleben“, sagt Tobias, „die Entscheidung treffen zu müssen, wer zuerst behandelt wird und wer später.“ Vincent findet es frustrierend, dann nicht helfen zu können.
Nötig ist dies diesmal nicht. Denn die Betreuerinnen des Heilig Kreuz-Kindergartens haben gute Arbeit geleistet. Sie haben die Kita evakuiert und die Kinder in den benachbarten Gemeindesaal versammelt. Kein Kind ist verletzt. Während die Berufsfeuerwehr die Lage innerhalb des Kita-Gebäudes überprüft, schauen sich Tobias, Vincent und der Notarzt die Kinder an.
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Entwarnung. Keines der Kinder scheint möglicherweise giftigen Schadstoffen im Qualm ausgesetzt worden zu sein. „Jetzt müssen wir schauen, dass wir die ängstlichen Kinder beruhigen“, sagt Vincent, „damit keine Massenhysterie ausbricht.“ Ein spannender Tag für die Kinder, die inzwischen auch Tobias Notizblock am Bein entdeckt haben und mit seinen Kugelschreibern fleißig darauf herumkritzeln. „Auf diesem Block notiere ich mir die Ergebnisse der Vitaluntersuchung“, sagt Tobias, „dann verwechsele ich da hinterher auch nichts oder muss nicht noch einmal messen.“
Glimpflicher Ausgang: Tobias und Vincent können gut schlafen
Aufgeregte Eltern erscheinen – wollen ihre Kinder abholen. Tobias, Vincent und der Notarzt entschärfen die Situation und informieren sie über alle Eventualitäten. Wann soll das Kind zum Kinderarzt? Wann bestenfalls soll die 112 gewählt werden? Mit ruhiger Stimme beruhigen sie die Eltern.
Nach rund eineinhalb Stunden ist der Einsatz beendet. Tobias und Vincent fahren zurück zur Rettungswache – bis dass der Pieper erneut anschlägt. Erst um 19 Uhr, wenn die Uniform fällt, fällt auch der Druck der ständigen Bereitschaft. Das ein oder andere nehme er auch mit ins Bett, verrät Tobias. Doch heute ist alles glimpflich abgelaufen. Tobias und Vincent können gut schlafen.