Winterberg. Er hat die markantesten und mitunter höchsten Bergen der Erde bestiegen und ist mit dem Drachen herunter geflogen. Heute wird Elmar Müller 80.
„Weil er da ist!“ Das hat die britische Bergsteigerlegende George Mallory auf die Frage geantwortet, warum er den Mount Everest besteigen wolle. Dreimal lässt Elmar Müller beim Interview-Termin die Frage im Raum stehen, warum er dem Reiz der Gipfel Zeit seines Lebens erlegen ist. Seine Augen glänzen, ein Lächeln huscht über das wettergegerbte Gesicht. Welche Bilder ziehen da wohl gerade vorbei? „Das kann man nicht erklären. Mallory hat das schon sehr treffend gesagt. Ich glaube, die Berge waren schon immer in meinem Kopf.“ Heute wird der Winterberger Bergsteiger und Drachenflug-Pionier 80 Jahre alt.
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Abenteuerliche Expeditionen
Es gibt kaum einen Gipfel auf den Kontinenten, den Elmar Müller nicht erklommen und beflogen hat. Von den ganz Großen fehlen ihm der Everest in Asien und der Mount Vinson in der Antarktis. Es waren nicht immer die höchsten, aber stets besondere Berge eines jeden Erdteils. Und es waren ehrgeizige und abenteuerliche Expeditionen, die immer wieder großes Medienspektakel auslösten. „Befliegen“ heißt: Das Fluggerät - in den meisten Fällen ein Drache - auf dem Buckel nach oben schleppen und dann hinunter fliegen. „Erst trägst Du ihn, dann trägt er Dich“, beschreibt Müller sehr anschaulich das Verhältnis zwischen Mensch und Gleiter. Der Abstieg und das Runterlaufen seien noch nie sein Ding gewesen. Was liegt näher als Fliegen?
Im Flur seiner Wohnung hängt eine gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie. Unten links ein getrocknetes Edelweiß. Von wann die Aufnahme ist und welchen Berg sie zeigt? Belanglos. „Da war ich vier oder fünf, als ich das Foto das erste Mal bewusst wahrgenommen habe. Mein Vater war Ingenieur für eine Siegerländer Firma. Er hat in Bergamo gearbeitet. Ich denke das Foto zeigt die Bergamasker Alpen. Er hat viele Bilder gemacht, ich habe nachts von den Motiven geträumt.“
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So fing alles an
Mit 15 Jahren fahren er und sein Schulkamerad Heinz mit dem Fahrrad vom Siegerland bis nach Zell am See. In kurzer Lederhose wollen sie auf den nächstbesten Berg. Ein Hagelschauer verhagelt ihnen die Tour. Ein Jahr später geht`s wieder aufs Rad, diesmal bis zum Gardasee. Später folgen Touren mit der Vespa nach Norwegen und Schweden, wo kein Berg vor den beiden Freunden sicher ist. Statt Hightech sind die Kletterer mit schweren Eisen, Hammer, Seilen und Karabinern unterwegs. Der erste Gipfel aber, auf dem Elmar Müller gestanden hat, ist die „Fleischbank“ am „Wilden Kaiser“. Für ihn auf ewig auf seiner Festplatte eingebrannt.
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Als Elmar Müller zur Bundeswehr muss, soll er dem Sanitätsdienst zugeteilt werden. „Ohne mich, dann wäre ich nach Berlin gegangen, wo man damals keinen Wehrdienst leisten musste.“ Aber sein Vater schafft es, ihn bei den Gebirgsjägern am Wendelstein unterzubringen. In einem Klettergarten in der Kaserne und am Berg trainiert Elmar ohne Unterlass. „Für die Bayern waren wir die Preußen und das haben sie uns immer wieder spüren lassen. Nach einer gewissen Zeit waren wir um Längen besser in der Wand als die Einheimischen. Aber ständig haben sie gelästert: Preißen san‘s, gleich kömmen‘s runter.“ Aber sie fielen nicht runter. Im Gegenteil. Je mehr gelästert wurde, desto mehr Ehrgeiz entwickelt der junge Elmar. Und schon bald macht ihm keiner mehr was vor: „Das Einzige, was mir nicht lag, war das Abseilen. Das haben wir auch nie richtig gelernt.“
Faszination Drachenfliegen
Nach einer erfolgreichen Zeit im Wintersport und einer bürgerlichen Phase mit den Aufgaben eines Bauingenieurs für Außenfassaden kommt 1969 der Wendepunkt im Leben von Elmar Müller. Am Mont Blanc in Charmonix sieht er zwei kleine Punkte am Himmel, die sich als Flugdrachen entpuppen. „Ich bin hinterher gelaufen wie ein kleines Kind hinter einem Luftballon. Am nächsten Tag bin ich mit dem Chef der Charmonixer Bergführer nach oben und hin zu den Drachenfliegern, die dort vom Gletscher gestartet sind. Da hätte die Welt untergehen können, das musste ich sehen. Das wollte ich auch. Mir ist fast das Herz stehen geblieben. Von da an habe ich an nichts anderes mehr gedacht.“
Das Meiste bringt sich Elmar Müller selber bei. In der Eifel tüfteln, probieren und perfektionieren er und weitere Flugbegeisterte ihre Technik. In einer Tageszeitung liest Müller von einem Skigebiet im Sauerland mit 210 Metern Höhenunterschied. Das war bei Elpe. 1977 gründet er dort eine Drachenflugschule und macht den Sport deutschlandweit salonfähig. Müller ist übrigens auch der einzige sowjetische Fluglehrer für Hängegleiter. Kurz vor Glasnost und dem Wind der Wende lädt ihn das sowjetische Kultusministerium ein, um den Russen das Fliegen zu lehren.
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Abenteuerliche Touren
In den Folgejahren packen Elmar Müller der Ehrgeiz und die Abenteuerlust. Berge besteigen ist eine Sache. Aber jetzt eröffnet sich die Möglichkeit, sie als Erster zu befliegen. Ob Mont Blanc, Kilimandscharo, Aconcagua oder das Great Rift Valley in Afrika - Müller schreibt Berggeschichte. „Für mich war das meine Methode, um die Welt zu erkunden. Ich allein hätte mir viele der Touren finanziell gar nicht erlauben können.“ Aber Brauereien, Strumpffabriken oder Felgenhersteller lassen es sich einiges kosten, ihr Emblem auf den später eigens für Müller konstruierten Bergfex-Drachen zu platzieren.
Elmar Müller war aber nie ein Hasardeur. All seine Touren waren durchgeplant, das Risiko zumindest überschaubar. „Manche sind froh, wenn sie oben auf dem Berg angekommen sind. Aber Du musst Dir Deine Kräfte so einteilen, dass sie auch noch für den Aufbau des Fluggerätes, den konzentrierten Start und die Beurteilung der Situation reichen.“ Beim Abflug vom Aconcagua hat Müller Witterungsbedingungen, „wie man sie nur alle zehn Jahre einmal hat.“ Beim Kilimandscharo packt er beim ersten Versuch unverrichteter Dinge auf dem Gipfel wieder ein. „Ich hatte nie einen Fehlstart. Wenn es nicht ging, habe ich gar nicht erst ausgepackt. Das muss man einschätzen können und nicht lange mit sich hadern.“
Im Dschungel in Lebensgefahr
Vor dem Everest, wo Müller befreundete Bergsteiger 2010 bis zum Basislager begleitet hat, um „diesen Irrsinn dort einmal selbst zu sehen“, hatte er immer Respekt. „Allein der Aufstieg ist brutal.“ Die letzte große Herausforderung führte den Winterberger insgesamt dreimal nach Südamerika. Beim ersten Versuch, vom Cristobal Colon zu fliegen, müssen er und ein Mitstreiter im Urwald landen, wo sie von feindlichen Ureinwohnern gefangen genommen und fast getötet werden. Nur ein beherzter Sprung in den Rio Palomino rettet ihr Leben. Tagelang irren sie ohne Essen im Dschungel umher. Ein Indianerjunge eines anderen Stammes führt die beiden unter Einsatz seines eigenen Lebens wieder in die Zivilisation. Ein Jahr später reist Müller mit einem Team noch einmal nach Südamerika, bereitet einen zweiten Anlauf vor, der 1992 in einer Katastrophe endet. Ein junger Expeditionsteilnehmer aus Thüringen kommt zu Tode.
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Beim Interviewtermin erzählt der 80-Jährige diese Geschichte in allen Einzelheiten. Sie allein würde ein ganzes Buch füllen. Bei jedem Satz spürt man, wie tief ihn dieses und auch andere Kapitel seines Lebens berühren. Die Fliegerei hat ihm nicht nur Glück gebracht. Heute fährt Elmar Müller Rad. E-Bike. Dazu steht er. 10.000 Kilometer im Jahr. Alles hat seine Zeit. Auf die Berge geht er heute nicht mehr. Muss er auch nicht. Weil sie ja da sind. Immer - im Herzen und im Kopf von Elmar Müller. Alles Gute zum Geburtstag!