Berlin. Soll man nach Tabelle schlafen? Ein Experte räumt mit gängigen Schlaf-Mythen auf und erklärt, wie viel Nachtruhe der Mensch braucht.
- Millionen Deutsche leiden unter Schlafmangel. Ein Schlafmediziner erklärt, welche gravierenden Folgen jahrelanges zu kurzes Schlafen hat
- Vom "sozialen Jetlag" bis zum Schlafhormon Melatonin: Was unseren Schlafrhythmus bestimmt
- Eulen oder Lerchen: Gibt es wirklich komplett unterschiedliche Schlaftypen?
Kaffee, viel Kaffee, damit einem im Meeting nicht die Augen zufallen. Und dabei ist doch erst Montag. Wie soll man es bis zum nächsten Wochenende schaffen, wenn man jetzt schon todmüde ist? Millionen Deutsche schlafen nicht gut. Vor allem Jugendliche seien chronisch übermüdet, so Prof. Ingo Fietze, Schlafmediziner am Schlafmedizinischen Zentrum der Berliner Charité und Buchautor („Deutschland schläft schlecht“, Rowohlt). Der Schlafforscher warnt vor den Gefahren des Schlafmangels und sagt, wie viel Schlaf der Mensch in welchem Alter braucht.
Herr Prof. Fietze, es gibt feste Schlafenszeiten. Säuglinge, Kleinkinder, Schulkinder, Jugendliche, Erwachsene – alle sollen anders schlafen.
Ingo Fietze: Ja, das stimmt. Aber im Grunde ist es vor allem eine Regel für Kinder und Jugendliche. Vom 23. bis zum 90. Lebensjahr braucht man keine Tabellen mehr.
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Keine Regeln? Warum nicht? Es heißt doch immer, im Alter brauche der Mensch weniger Schlaf. Also sagen wir mit 90 weniger als mit 23 Jahren.
Fietze: Die wissenschaftlichen Studien geben das nicht her. Erwachsene sollten nicht über einen längeren Zeitraum unter sechs Stunden schlafen. Auch Senioren nicht.
Was passiert denn bei weniger Schlaf?
Fietze: Wer dauerhaft, also sagen wir wirklich mehrere Jahre lang, weniger als sechs Stunden schläft, riskiert körperliche Erkrankungen wie Infektionen, hohen Blutdruck oder Diabetes. Kürzerer Schlaf ist also durchaus sehr gefährlich.
Weniger als sechs Stunden Schlaf: Wann es gefährlich wird
Aber mit sechs Stunden Schlaf oder auch weniger fühlen sich doch viele gut ausgeruht.
Fietze: Das mag sein. Aber das heißt nichts. Die Folgekrankheiten basieren auf wissenschaftlicher Datenlage.
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Manche Erwachsene schlafen nur vier Stunden und wirken gar nicht unausgeschlafen.
Fietze: Und manche schlafen sogar nur zwei. Aber das führt nicht nur auf die Dauer zu Schäden, sondern auch schon am nächsten Tag zu einem zumindest kognitiven Leistungseinbruch.
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Bei Kindern aber sollte man genau auf die Schlaftabelle gucken, heißt es immer. Kleinkinder von zwölf Monaten bis zwei Jahren sollten elf bis 14 Stunden schlafen. Schulkinder ihre neun bis elf Stunden Schlaf bekommen. Warum sollten Eltern so streng darauf achten, dass die Zeiten auch möglichst eingehalten werden?
Fietze: Es ist für das Wachstum und die geschlechtliche Reife bei Kindern wichtig. Denn Menschen wachsen nur, wenn sie schlafen. Und reifen nur, wenn sie schlafen. Weil nur dann das Wachstumshormon und das luteotrope Hormon für die Reifung ausgeschüttet wird.
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Säuglinge bis zum Alter von drei Monaten und Babys im Alter von vier bis elf Monaten sollen ja sogar 14 bis 17 Stunden, beziehungsweise zwölf bis 15 Stunden schlafen.
Fietze: Ja, das ist richtig. Das kommt aber auch meistens hin. Auch wenn oft der Eindruck entsteht, das Kind ist zu viel wach und weint. Da holt sich der Körper in aller Regel den Schlaf zurück.
Gilt das mit dem „Schlaf zurückholen“ auch in höherem Alter?
Fietze: Ja, das ist generell möglich. Aber wer den Nachtschlaf nicht bekommt, am besten den vor Mitternacht, der kann die fehlende Schlafqualität nicht mit einem Tagschlaf ausgleichen, das Schlafdefizit aber schon.
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Schlafmediziner warnt: Jugendliche sind komplett übermüdet
Jugendliche zwischen 14 und 17 sollten auch etwa acht bis zehn Stunden schlafen. Wenn man da manchmal die müden Gesichter sieht, bezweifelt man, ob sie das beherzigen.
Fietze: Jugendliche sind die am wenigsten Ausgeschlafenen von allen Altersgruppen. Laut Studien weisen sie zu 40 Prozent starke Schlafmangelsymptome wie Unkonzentriertheit und Leistungseinbrüche auf.
Woran liegt das?
Fietze: Sie sind abends einfach zu lange wach. Untersuchungen haben ergeben, dass sie sich sehr lange noch Serien auf ihren Tablets anschauen. Und morgens müssen sie ja bekanntlich früh raus.
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Können denn die jungen Leute dieses Schlafdefizit nachholen?
Fietze: Nur schwer. Am nächsten Tag sind sie ohnehin übermüdet. Und wenn sie dann am Wochenende feiern gehen, dann erst um vier Uhr ins Bett gehen und am Nachmittag aufstehen, kommen sie zwar auf ihre Stundenzahl – aber der veränderte Rhythmus führt zu dem, was wir „sozialen Jetlag“ nennen: eine verschobene Schlafenszeit. Das ist so ähnlich für den Organismus wie der Jetlag, den wir erleben, wenn wir von Berlin nach New York fliegen.
Partymachen am Wochenende bringt den Schlafrhythmus durcheinander
Was kann man gegen den Jetlag tun?
Fietze: Man sollte besser nur an einem Tag am Wochenende übers Schlafensziel hinausschießen. Einmal, das kann der Körper tolerieren. Wenn es dann aber wieder zur Normalität übergeht.
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Normalität scheint beim Schlaf überaus wichtig zu sein. Dabei hieß es doch lange auch: Es gibt die Eulen (Langschläfer) und die Lerchen (Frühaufsteher). Also ganz individuelle Schlaftypen.
Fietze: Der Tages- und Nachtrhythmus ist in geringen Grenzen individuell und um ein bis zwei Stunden nach vorn oder hinten verschoben. Bei allen Normaltypen, die übrigens am häufigsten sind, wird das Schlafhormon Melatonin etwa ab 20 Uhr gebildet. Und morgens ab 5 Uhr wird zunehmend das Stresshormon Cortisol ausgeschüttet, das das Aufwachen einleitet. Diese Hormone bestimmen den Schlafrhythmus.
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Was raten Sie Menschen, die nicht zu ihrem normalen Schlafrhythmus finden?
Fietze: Sich belesen, sich aufklären, mal einen Schlafkurs belegen oder eine App runterladen, aber wenn der Schlaf dauerhaft nicht erholsam ist, Rat bei einem Schlafmediziner suchen.