Berlin. Viele Frauen leiden nach der Geburt an einer Depression. Jetzt gibt es eine Pille, die schnell helfen soll. Experten sind skeptisch.
Mutterliebe ist wohl das stärkste aller Gefühle und der Kitt für die erste Bindung im Leben. Durch Geborgenheit und Zuwendung entwickeln Babys Urvertrauen, das das spätere Leben entscheidend prägt. Doch was passiert, wenn eine Mutter ihr Baby nicht lieben kann? Wenn sie sich über ihr Neugeborenes nicht freut, sondern es als Belastung empfindet oder das Kind gar nicht mehr haben möchte?
Nach Angaben der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention entwickeln etwa zehn bis 15 Prozent der Mütter nach der Geburt ihres Kindes eine postpartale Depression, auch Wochenbettdepression genannt – mit weitreichenden Folgen. „Eine postpartale Depression ist keine Befindlichkeitsstörung, sondern wie jede Depression eine ernsthafte Erkrankung, die behandelt werden kann und muss“, erklärt Professor Ulrich Hegerl, Psychiater und Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention.
Depression im Wochenbett: Pille in den USA bereits zugelassen
Ein neues Medikament, das vor wenigen Wochen in den USA zugelassen wurde, verspricht nun die Beschwerden von Betroffenen innerhalb kürzester Zeit zu lindern. Die Pille Zurzuvae ist speziell auf Wochenbettdepressionen zugeschnitten worden und muss laut der US-Arzneimittelbehörde FDA nur zwei Wochen lang einmal täglich geschluckt werden.
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In klinischen Studien, an denen etwa 350 Frauen teilnahmen, berichteten die betroffenen Mütter im Schnitt bereits nach drei Tagen von ersten Besserungen ihres Zustandes. In den US-Medien wird das Medikament, das bis Ende des Jahres auf den US-Markt kommen soll, bereits als „Gamechanger“ gefeiert. Können postpartale Depressionen also in Zukunft in nur wenigen Tagen behandelt werden?
Psychiater: Medikament hat einen dämpfenden Effekt
So einfach gehe diese Rechnung nicht auf, meint Professor Ulrich Hegerl. Er hält das Medikament aus den USA nicht für ein Wundermittel. Denn ob Zurzuvae die Symptome wirksamer lindert als klassische und in Deutschland bereits zugelassene Antidepressiva ist fraglich. „Das Medikament basiert auf dem Wirkstoff Zuranolon und hat einen sedierenden Effekt“, erklärt Hegerl. Sedierende Antidepressiva wirken beruhigend und dämpfend, können Angstzustände lösen.
Die Betroffenen würden die beruhigende Wirkung früher merken als Effekte auf die depressive Kernsymptomatik wie Schuldgefühle, Hoffnungs- und Freudlosigkeit. „Sedierende Antidepressiva, wie sie bei uns bereits erfolgreich im Einsatz sind, zeigen ebenfalls oft rasche positive Effekte, etwa auf den Schlaf“, erläutert der Experte. Ob Zurzuvae also einen Zusatznutzen gegenüber den bewährten Antidepressiva hat, müsse erst in Studien gezeigt werden, „bevor man daran denken kann, von einem Durchbruch zu sprechen“.
Zu bedenken sei auch, dass Zurzuvae laut FDA bei Schwangeren nicht empfohlen wird und auch an stillenden Müttern nicht getestet wurde. Außerdem sollte man nach der Einnahme von Zurzuvae für mindestens zwölf Stunden kein Auto fahren. „Zudem fehlen bisher meines Wissens nach ausreichende Langzeitdaten“, sagt Hegerl. Und ob und wann das Medikament in Europa überhaupt zugelassen wird, steht noch in den Sternen. Bei der Europäischen Arzneimittelagentur liegt jedenfalls noch kein Zulassungsantrag vor.
Psychotherapie ist zweite wichtige Säule der Behandlung
Ohnehin sei eine Depression multifaktoriell bedingt und müsse ganzheitlich behandelt werden. „Neben Medikamenten ist die Psychotherapie, insbesondere die Kognitive Verhaltenstherapie, die zweite wichtige Behandlungssäule bei Depressionen“, erläutert der Experte.
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Wichtig sei es dabei, die postpartale Depression vom gängigen Baby Blues abzugrenzen. „Baby Blues ist eine Stimmungsschwankung, wie sie in der ersten Woche nach der Entbindung vorkommt und von allein abklingt“, erklärt Ulrich Hegerl. Ursächlich dafür seien starke Hormonabfälle nach der Geburt. In der Regel würden 50 bis 80 Prozent aller Mütter Symptome des Baby Blues zeigen.
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Eine postpartale Depression kann dagegen bis zu mehreren Monaten dauern und ist unbedingt behandlungsbedürftig. „Die depressiv erkrankten Mütter fühlen sich völlig erschöpft, überfordert, und werden von Schuldgefühlen gequält, ihr Baby nicht zu lieben“, so der Psychiater. Im schlimmsten Fall besteht die Gefahr, dass die Frauen sich selbst oder ihrem Kind etwas antun.
Hegerl: „In der Depression können Betroffene keine liebevollen Gefühle wahrnehmen und fühlen sich wie innerlich abgestorben. Ganz wichtig ist es deshalb zu wissen: Die Depression ist kein persönliches Versagen, sondern eine ernsthafte, leidvolle Erkrankung, an der man nicht selbst schuld ist.“
Wenn Sie sich in einer akuten Krise befinden, wenden Sie sich bitte an Ihren behandelnden Arzt oder Psychotherapeuten, die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter 112. Sie erreichen die Telefonseelsorge rund um die Uhr und kostenfrei unter 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222.