Berlin. Morgenroutinen, Meditation und Ordnung vertreiben die Wut und machen glücklich. Wirklich? Julia Karnick erklärt, was daran problematisch ist.

  • Warum Morgenroutinen und Meditation nicht immer der Schlüssel zum Glück sind und wie sie uns unter Druck setzen können
  • Realität vs. Ideal: Unsere Autorin hinterfragt den Trend zur Selbstoptimierung und warum nicht jeder in das Bild der perfekt organisierten, achtsamen Person passt
  • Eine Psychologin erklärt, warum Glück zu einem Statussymbol geworden ist

Nein, ich werde nicht mehr die tiefenentspannte und fokussierte Frau, von der ich immer dachte, dass ich sie mal sein werde. All die anderen scheinen das ja mühelos hinzubekommen. Sie sind achtsam, sortiert und strukturiert. Sie liegen morgens um sechs Uhr auf der Yoga-Matte, nehmen sich Zeit für ihr inneres Kind und finden ihr Seelenheil in Spiritualität, Schweigekloster, Aufmerksamkeit für den Augenblick und das selbst gebackene Chia-Brötchen. Und in Marie-Kondō-geordneten Wäscheschubladen.

Während draußen die Welt immer unübersichtlicher und unkalkulierbarer wird, schaffen sie sich so den perfekten Ausgleich: drinnen, in ihrer privaten Sphäre, haben sie alles im Griff. Nicht nur Kalorienverbrauch, Kinder und Karriere, sondern auch ihren Gefühlshaushalt und die Gestaltung ihres Tages. Der neueste Trend: die Morgenroutine, dieser „bewusst gestaltete Ablauf der ersten Stunden eines Tages“ durch Rituale wie: „Tee oder Kaffee zubereiten“, „Dehn- oder Muskelübungen“, „Zeit für Kreativität und Inspiration“, „Dankbarkeit praktizieren“, „Erfolgstagebuch führen“ oder „Meditation und Selbstreflexion“ – empfiehlt unter anderem die karrierebibel.de. So starte man bestens gelaunt und auf hohem Energielevel in den Tag und könne Stress vermeiden und seine „Produktivität steigern“.

Gesundheit: Achtsamkeit und Produktivität als Trend

Keine Ahnung, wie andere das schaffen, ich jedenfalls hatte in den letzten 20 Jahren keine Zeit für produktivitätssteigernde Dehnungsübungen. Erst recht nicht morgens vor halb sieben. Meine Rituale beschränkten sich auf „aus dem Bett quälen“, „Kaffee zubereiten“, „Kinder wecken, Frühstück machen, Brotdosen füllen“. Danach (und bevor ich ins Büro raste) räumte ich noch schnell den Geschirrspüler aus, stopfte Wäsche in die Waschmaschine und schrieb den Einkaufszettel – um die Abendroutine nicht zu gefährden: Wäsche falten, essen, Geschirrspüler anstellen, um zehn halb tot ins Bett fallen.

Inzwischen sind die Kinder erwachsen, die Rushhour meines Lebens ist vorbei, das Büro habe ich aufgegeben. Ich bin den ganzen Tag zu Hause, habe wieder viel Zeit für mich und keine einzige Ausrede mehr, warum ich nicht an mir und meinen Gewohnheiten arbeite. Ich könnte mich ohne größere Probleme ganz der Aufgabe widmen, eine völlig neue, achtsame Frau zu werden. Eine, die freiwillig um viertel nach sechs aufsteht, eiskalt duscht, den im letzten Yoga-Urlaub gestrickten Pulli überzieht und sich mit einem dampfenden Kräutertee für 15 Minuten in den Anblick des Gartens versenkt, um sich die Vergänglichkeit allen Lebens bewusst zu machen.

Stattdessen bin ich, was ich immer war: ein bisschen bequem, ein bisschen hektisch, undiszipliniert und ablenkbar, mit einem Hang zu spontanen Planänderungen, Wutausbrüchen und Begeisterungsstürmen – und ohne jede Begabung für einen starren Tagesablauf.

Achtsamkeit und Routinen: Das klappt nicht für alle

Seit die Kinder nicht mehr zur Schule gehen, schlafe ich so lange, bis ich von selbst aufwache, mal bis halb sieben, mal bis halb neun. Ich nenne das Freiheit, für die Autorin Margarete Stokowski ist Ausschlafen mehr Rebellion gegen die neoliberale Leistungsgesellschaft: „Der ganze neumodische Achtsamkeitszirkus“ sei „nur der Versuch, trotz chronischen Schlafmangels konzentriert zu bleiben. Selbstoptimierung unter maximaler Ignoranz körperlicher Bedürfnisse. Statt Achtsamkeitsbücher zu lesen oder -Apps zu benutzen, könnten Leute auch länger schlafen – wenn das System es ihnen erlauben würde.“

Nach dem systemkritischen Ausschlafen schlurfe ich meistens ungeduscht in die Küche. Dort stelle ich das Radio an, mache mir zuerst einen Kaffee und dann einen Nutella-Toast oder ein Müsli mit frischem Obst und manchmal auch gar nix. Auch da gibt es keine Routine, nur meinen Appetit und den Zustand meines Kühlschranks. Während ich Kaffee trinke, klappe ich meinen Laptop auf und gucke nach, was über Nacht passiert ist in der Welt und in den sozialen Medien. Ich frage per Whatsapp meine Freundinnen, wie es ihnen so geht. Am liebsten mache ich das alles auf einmal: Ruhe hatte ich ja in den vielen verschlafenen Stunden zuvor. Außerdem bin ich ein Multitasking-Genie. Ich schaffe es locker, im Stehen essend mit meiner Mutter auf dem Festnetz zu telefonieren, während ich mit dem Handy in einer Warteschleife hänge, Rote Bete koche und Facebook-Kommentare lese.

Leider ist das eine Fähigkeit, mit der man nicht mehr punkten kann, seit es angesagt ist, immer nur eine Sache zu machen. Mal früher, mal später setze ich mich an meinen Laptop und schreibe. Weil mir Schreiben auch ohne vorbereitendes Meditieren Spaß macht, kommt es regelmäßig vor, dass ich gegen 14 Uhr bemerke, dass ich immer noch ungeduscht bin und großen Hunger habe. Oft stopfe ich dann irgendetwas Ungesundes in mich rein. Die einzige tägliche Routine in meinem Leben ist nämlich die, dass ich jeden Abend den Vorsatz fasse, gleich morgens lauter gesundes Zeug für mittags einzukaufen, mich jedoch so gut wie nie daran halte: Ich hasse Einkaufen, deshalb gehe ich immer erst abends los, wenn ich schon wieder vergessen habe, wie hungrig ich mittags war.

Achtsamkeits-Trend: Glück ist zum Statussymbol verkommen

Ich bin nicht stolz darauf, so unorganisiert und schlampig zu sein. Aber so schlimm finde ich es auch nicht. Immerhin lebe ich noch – und das sogar mehr oder weniger glücklich, denn ich bin vielleicht nicht sonderlich achtsam, dafür aber sehr nachsichtig mit mir und meinen Schwächen – und mit denen meiner Mitmenschen. So haben alle was von meiner Disziplinlosigkeit.

Auch in Sachen „Kopf frei bekommen“ bin ich eher unachtsam. So lange ich wach bin, denke ich ständig über irgendetwas nach. Ich denke beim Duschen, beim Kochen, beim Aufräumen nach: über Politik, über psychologische Themen, über mich selbst, über einen Satz, den ich gelesen habe, oder über Sätze, die ich schreiben möchte. Ich mag es, wenn mein Gehirn denkt, dazu ist es schließlich da. Wenn ich merke, dass meine Gedanken eine Pause brauchen, schlafe ich, grabe im Garten oder koche. Ganz sicher lege ich mich nicht auf eine Matte, beobachte meinen Atem und spüre dem Jucken in meinem linken kleinen Zeh nach. Habe ich probiert und finde es langweilig. Mich nerven diese Menschen, die scheinbar alle negativen Gefühle loslassen können. Ich will verdammt noch mal aufgewühlt oder getrieben sein, ohne mich deshalb sofort als Versagerin zu fühlen.

Die Soziologin Eva Illouz sagt: „Mit der positiven Psychologie ist der Druck entstanden, immer glücklich sein zu müssen.“ Und Glück ist dabei zu einem Statussymbol verkommen, während Wut oder Hoffnungslosigkeit stigmatisiert wurden. Dabei könnten viele dieser vermeintlich negativen Gefühle ein Mittel zur Veränderung sein, so Illouz: „Die Frauenbewegung war nur so erfolgreich, weil sie von Zorn getrieben war. Und nicht von Glück.“

Bitte nicht falsch verstehen: Ich habe nichts gegen Glücklichsein. Aber es macht mich wütend, wenn man mir weismachen will, das wahre Glück einer Frau bestehe darin, sanft lächelnd jede Erschöpfung, Traurigkeit und Aggression und jedes Chaos in ihrem Leben wegzuorganisieren und wegzuatmen. Eine erschöpfte Frau sollte sich nicht noch mehr, sondern weniger Pflichten auferlegen. Eine traurige oder wütende Frau sollte sich mit den Ursachen für Trauer oder Wut beschäftigen. Ein gewisses Ausmaß an Chaos ist für mich ein Ausdruck von Lebendigkeit. Und das ist nichts, wofür wir uns schämen müssen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift "Donna", die wie diese Redaktion zur Funke Mediengruppe gehört.