Essen. Die neue Dokumentation „ABBA – Die ganze Geschichte“ versucht eine persönliche Annäherung an die größte Pop-Sensation der 1970er-Jahre.

Nie wieder hat der Eurovision Song Contest einer solch schillernden Weltkarriere den Weg bereitet. Am 6. April 1974 treten Agnetha Fältskog, Anni-Frid Lyngstad, Björn Ulvaeus und Benny Andersson im englischen Seebad Brighton ins Rampenlicht des damals noch als „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ bekannten Wettbewerbs. Im Vorjahr waren sie mit ihrer Band ABBA und dem Titel „Ring Ring“ noch beim Vorentscheid in ihrer schwedischen Heimat gescheitert, hatten mit dem Song und dem gleichnamigen Album aber immerhin einen Achtungserfolg verbuchen können. Nun stellen sie ihr neues Stück „Waterloo“ auf der großen europäischen Bühne vor – und verlassen diese einige Stunden später als strahlende Überraschungssieger, die fortan mit rund 400 Millionen verkauften Platten zu einem der größten Pop-Erfolge der Musikgeschichte aufsteigen.

Kein Wunder, dass der britische Regisseur James Rogan fast genau 50 Jahre später dieses Schlüsselereignis auch zum Ausgangspunkt seiner neuen Dokumentation „ABBA – Die ganze Geschichte“ (ab dem 2. Mai in der ARD-Mediathek sowie am 9. Mai um 22.50 Uhr in der ARD) macht. Wobei der dösige deutsche Untertitel gleich doppelt falsch liegt: Rogan fokussiert im Laufe der 90 Minuten seines Films größtenteils ABBAs Weltruhm-Jahre von 1976 bis 1980, und selbst die erzählt er mit einem angemessenen Mut zur Lücke.

„ABBA – Die ganze Geschichte“: Kein Wort über die Zeit nach der Trennung

Vor allem aber fällt kein Wort dazu, wie ABBA seit der Trennung der Band im Jahr 1982 in Wellen immer mehr zu einem globalen Popkultur-Phänomen avancierten. Wie das Greatest-Hits-Album „Gold“ von 1992 mit 30 Millionen Verkäufen zu einer der bestverkauften Platten aller Zeiten wurde. Wie der Song „Mamma Mia“ irgendwann Musicals und Filmen stiftete. Wie Madonna sich durch ein Sample von „Gimme! Gimme! Gimme! (A Man After Midnight)“ im Song „Hung Up“ 2005 einmal mehr ein Comeback verschaffte. Und nicht zuletzt, wie Abba ab 2016 nochmal zurückkehrten und schließlich ihre Karriere mit ihrem neunten Album „Voyage“ und den zugehörigen Konzerten digitaler Ebenbilder ihrer selbst krönten. Wer „die ganze Geschichte“ hätte erzählen wollen, hätte all das zumindest angerissen.

Worum es James Rogan stattdessen geht, drückt sich besser im englischen Original-Subtitel aus. „Against the odds“, also „allen Widrigkeiten zum Trotz“ seien ABBA zu Superstars aufgestiegen, so seine These. Das klingt für deutsche Ohren angesichts des frühen Erfolgs von ABBA hierzulande abwegig, erklärt sich aber aus Rogans angelsächsischer Perspektive: In vielen O-Tönen von Reportern und Zeitungsausschnitten zeigt er auf, wie feindselig vor allem die berüchtigte britische Presse dem Quartett zunächst gegenübersteht und es als seelenlosen Kommerz-Mist verfemt. Und veranschaulicht weiter, dass ABBA auch die USA nie so richtig „knacken“ und nur ihr durchschlagender Erfolg in Australien die englischsprachigen Bruderländer ein wenig aufhorchen lässt.

„ABBA – Die ganze Geschichte“ zeichnet dank vieler O-Töne der Bandmitglieder ein sehr persönliches Bild der Band.
„ABBA – Die ganze Geschichte“ zeichnet dank vieler O-Töne der Bandmitglieder ein sehr persönliches Bild der Band. © WDR | Alamy

Die Erzählung bleibt dabei trotz der Konzentration auf wenige Jahre stets fragmentiert, schlaglichtartig. Kurz geht es um das Kennenlernen der Bandmitglieder, dann um den Stand der Band in Schweden, kurz darauf schon um ABBA als kostümglänzendes Pop-Gegenstücke zur schmuddelig-nihilistischen Punk-Revolution von 1977. Auch ABBAs Beziehung zur (politischen) Disco-Bewegung und die spanischsprachigen Ambitionen der Band kommen zur Sprache, bleiben aber knappe Ausrisse. Die liefern zumindest ein paar charmante Anekdoten, wie etwa die vom Roadie der Sex Pistols, der auf Tour nonstop ABBAs „Dancing Queen“ auf dem Kassettenrekorder gespielt haben soll, weil angeblich die ganze Reisegruppe Fan der Schweden war.

Ein sehr persönlicher Blick auf ABBA – mit vielen O-Tönen der Musikerinnen und Musiker selbst

Sehenswert ist „ABBA – Die ganze Geschichte“ aber vor allem, weil Rogan auf einen Erzähler verzichtet und stattdessen einen enormen Fundus an Archivmaterial sprechen lässt. Darin kommen neben Freunden und Kollegen insbesondere die Bandmitglieder selbst ausführlich zu Wort – und das stellt eine unerwartete Nähe zwischen dem Publikum und den Protagonisten des Films her, macht ihn zu einer persönlichen Angelegenheit. „Wir haben Gefühle. Es tut uns weh, wenn man uns angreift“, sagt Agnetha an einer Stelle des Films. Das ist es, was einem diese Dokumentation erfolgreich nahebringt: Das hinter all den überlebensgroßen Hits Menschen stecken, denen der Druck zu schaffen macht, die um Anerkennung für ihr künstlerisches Schaffen ringen und deren Ehen schließlich zerbrechen.

Und dann ist da natürlich noch die Musik. Die wird über weite Strecken des Films als selbstverständlich vorausgesetzt – man erfährt wenig darüber, wie ABBA zwischen Glamrock, Schlager, Chanson und Disco eine vielfältige Popmusik fanden, deren Harmonien bis heute in der Musikwelt widerhallen. Gelungen ist, wie der Film Hits wie „Money Money Money“ oder „The Winner Takes It All“ kommentierend einsetzt, wenn es gerade um die vermeintliche Geldgier der Band oder das Scheitern von Beziehungen geht. Und dass neben den ewigen Klassikern wie „S.O.S.“ auch Songs aus der zweiten Reihe wie „Tiger“, „Summer Night City“ und „The Way Old Friends Do” angespielt werden, wird Die-Hard-Fans der Band freuen.

Vier von fünf Sternen.