Bochum. Der Verein „Mentor“ sucht Ehrenamtliche, die mit Grundschülern schmökern. Warum Hunderte Paten im Ruhrgebiet längst nicht mehr reichen.
Kleine Finger erdrücken das große D. Den Artikel am Anfang des Satzes hat Media sofort erkannt, „Begleiter“ heißt der in ihrer Grundschulklasse. Aber gehört zum „Leuchtturm“ nun ein „der“ oder ein „das“ oder gar ein „die“? Die Neunjährige schaut grübelnd in die Luft statt auf das D, das sie weiter festhält. Sie liest nicht, sie kramt im Gedächtnis, aber da ist nichts, was wie ein Leuchtturm aussieht. Das Lesen aber soll sie lernen, das würde alles einfacher machen, und Adelheid Scholz hilft ihr dabei: die Leselernhelferin vom Verein „Mentor“, den es inzwischen im fast ganzen Ruhrgebiet gibt. Aber eben noch nicht überall, obwohl überall Kinder sind wie Media und immer noch zu wenig Menschen wie Frau Scholz.
Media schreibt sich mit M, genau wie die „Monsterklasse“, in der das Mädchen gerade sitzt an der Vels-Heide-Schule in Bochum, und Mello, das blaue Klassenmonster vor ihr auf dem Tisch. „Mit Mmh“, buchstabiert die Neunjährige, sie summt den Konsonanten, aber das Wort „Summen“ kennt sie nicht. Dabei ist das Geräusch dasselbe, das die Bienen machen, und gerade hat sie eine gefaltet aus gelbem Papier. Media ist eines der Kinder, von denen die Mentor-Vorsitzende Heidrun Abel sagt, dass sie keinen großen Wortschatz haben, sondern eher ein -schätzchen.
Abenteuer zwischen Buchdeckeln entdecken
Und sie sind viele. Die Lesekompetenz nimmt ab und mit ihr die des Erzählens, des selbstständigen Worte-Findens. Es gibt vielerlei Gründe dafür, und Corona ist nur der jüngste unter ihnen. Größere Schulklassen, Eltern, die keine Zeit haben, die kein Deutsch sprechen, die keine Vorbilder sind, weil sie selbst keine Bücher im Haus haben und schon gar nicht hineinschauen. Oder gar vorlesen! Denn damit fängt es an, sagen sie bei Mentor, „nur so kann Neugier auf das Buch entstehen“, die Lust, sich von Abenteuern zwischen den Deckeln entführen zu lassen. „Alles Können beginnt mit dem Wollen“, sagt Heidrun Abel.
Beides fördern sie bei Mentor, eine Stunde in der Woche: ein Ehrenamtlicher, ein Kind, nur zu zweit im Klassenzimmer. Dort lesen sie vor allem, aber die Zeitung, die Adelheid Scholz heute mitgebracht hat, ist auch zum Spielen praktisch: Zu Beginn legen die beiden die Seiten über die Arme wie Flügel. Media ist der „Buchfink“, das ist sinnig, sie „fliegt“ zu ihrem kleinen Stuhl. Auf dem Tisch hat Frau Scholz welke Blätter ausgelegt, sie hat „Herbst“ darauf geschrieben und eine Laterne angezündet, ab nächster Woche wird es um Sterne gehen.
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In der vergangenen war die Geschichte von „Peter Pan“ noch etwas zu schwierig, deshalb sucht Media jetzt ein Büchlein aus, das nur acht Seiten hat und acht Sätze. Sie schaffen heute die Hälfte. Die Neunjährige liest mit leisem, hohem Stimmchen, Frau Scholz muss beinahe in das Mädchen hineinkriechen, um zu verstehen. Media starrt die Wörter an, guckt erstaunt – „Lesen ist unser Zauberwort!“, ruft Frau Scholz – und doch stolpert das Kind zum dritten Mal über den Namen „Tom“. Und was, bitte, soll „sogleich“ bedeuten? Die Augen fragen das, aber der ganze Satz ergibt Sinn: „Sogleich geht es los.“ Media sagt „loss“, aber es ist zu hören an ihrem schweren Seufzer, dass sie erleichtert ist über den Punkt dahinter. Frau Scholz klatscht. „Alle Wörter richtig!“
Leselernhelfer für 13 von 300 Kindern
Lesen ist für dieses Kind der zweite Schritt nach dem Sprechen, aber wie wichtig der ist, betont Heidrun Abel: „Bildung kann nicht stattfinden, wenn ich nicht lesen kann.“ Der „Grundschlüssel“, sagt Lehrerin Andrea Rautenberg, an der Vels-Heide-Schule die Koordinatorin für die Mentoren. 13 von 300 Kindern kann sie hier einen Leselernhelfer anbieten. Es gibt andere Schulen, weiß Heidrun Abel, die einen derart großen Bedarf haben, „dass sie jedem Kind einen Mentor zur Seite stellen könnten“. Dabei ist es mit den Lesepaten wie fast überall im Ruhrgebiet: In den südlichen Stadtteilen wohnen die meisten Ehrenamtlichen, im Norden haben die Kinder den größten Bedarf.
Und es geht ja nicht nur um das Lesen von Büchern. „Auf dem Handy, auf dem Tablet“, sagt Lehrerin Rautenberg, „lese ich auch.“ Für sachliche Informationen, für das Recht auf Beteiligung, „ist die Lesekompetenz nötiger denn je“. Die Pädagogin schafft die Grundlagen im Unterricht, die Lesepaten haben eine andere Rolle: Sie brauchen keine didaktischen Kenntnisse, es reicht, wenn sie ihre Zeit schenken und ihr Herz. Sie fördern nicht nur, sie begleiten. „Beziehungsarbeit“ heißt das im Verein, und die meisten Kinder sind stolz auf ihre Extra-Stunde: „Es ist jemand da, nur für mich.“
In Recklinghausen oder Oberhausen fehlen Lesepaten
An der Wand in Medias Klasse hängt das Alphabet von A wie Ameise bis Z wie Zaun, darunter hat sich das Mädchen eingekuschelt: Frau Scholz hat einen Leseknochen mitgebracht, ein selbstgenähtes Kissen, aber das Buch hat nun die 68-Jährige in der Hand. Sie liest vor aus der „Schule der magischen Tiere“, alle Rollen mit verschiedenen Stimmen. Aber die Stelle mit der Elster kennt Media bereits, die „neben dem Trampolin“ kann sie mitsprechen mitsamt dem schwierigen Dativ. Hallo, Frau Scholz, „das war schon“! Media liest tatsächlich mit.
>>INFO: DAS NETZWERK MENTOR
Das Netzwerk Mentor Ruhr – Die Leselernhelfer hat sich ursprünglich von Bochum aus ausgebreitet, allein dort sind mit 560 bis heute die meisten Mentoren aktiv. Die nächstgrößten Standorte sind Dortmund, Bottrop, Essen, Gelsenkirchen und Witten. Auf der Mentor-Landkarte fehlen noch etwa Oberhausen und Recklinghausen. Insgesamt lesen im Ruhrgebiet 2.200 Mentorinnen und Mentoren. Sie betreuen 2.650 Lesekinder.
Wer mitmachen will oder gar selbst einen Verein gründen: Das Netzwerk Mentor Ruhr hilft. Standort: Hellweg 16, 44787 Bochum, Tel.: 0234 / 890 13 13 9, Mail: info@bochum-mentor.de . www. bochum-mentor.de