Essen. Die Villa Hügel öffnete sich mit „Die Sterne“ zum ersten Mal für etwas anderes als Klassik. „Endlich“, sagt nicht nur Mille Petrozza von Kreator.
Kann man noch von einem Wohnzimmerkonzert sprechen, wenn das Wohnzimmer 450 Quadratmeter misst? Kostbare Gobelins und Kerzenleuchter zieren die Wände. Auch die an Pomp kaum zu überbietende Vertäfelung und der riesige Kamin im wohl atemberaubendsten Raum der Villa Hügel könnten dem musikalischen Kern der Indie-Rockband „Die Sterne“ kaum ferner sein. Ausgerechnet jene Band, die seit den 1990er-Jahren Systemkritik („Was hat dich bloß so ruiniert?“) in ihre Texte webt, soll nun also mit der klassischen Konzertkultur auf dem Hügel brechen?
„Was könnte sich ein linker Musiker mehr wünschen als das: ein systemrelevanter und militärisch geprägter Konzern wird in eine gemeinnützige Stiftung umgewandelt, die Gutes tut und ein Rockkonzert veranstaltet?!“, antwortet Sterne-Frontmann Frank Spilker auf die Frage, wie seine Band in die 1870 von Alfried Krupp entworfene Villa hineinpasst.
450 Gäste erleben eine Premiere, die lange nachhallen wird
450 Gäste – die Tickets waren innerhalb von zwölf Stunden vergriffen – erleben eine Premiere, die wohl noch lange nachhallen wird. Aufgewärmt von der Essener Band „Plastic Peaches“ kommen sowohl Sterne-Fans der ersten Stunde als auch Neuentdecker 90 Minuten lang kaum aus dem Staunen heraus. Die Band, die mit Blumfeld und Tocotronic als Vorreiter der Hamburger Schule gilt, spielt „Wichtig“ vom gleichnamigen, 1993 erschienen Debütalbum ebenso wie die oft discofunkigen Nummern der vergangenen Jahre, darunter „Hallo Euphoria“ oder „Der Sommer in die Stadt wird fahren“.
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Vor allem Keyboarderin Dyan Valdés versprüht ihre Spielfreude ins gesamte Publikum. Seit 2012 ist sie dabei und für Spilker musikalischer Anker. „Sie hat die Kontinuität erhalten“, sagt der Frontmann über sie. Seit 2018 Thomas Wenzel und Christoph Leich die Band verließen, hat Frank Spilker „Die Sterne“ ein Stück weit neu erfunden, ohne sie zu entkernen. Damals wie heute geht es um eine gerechtere Gesellschaft, um Lebenssinn und Liebe, Trostlosigkeit und Trauer. Und noch immer flippen die Fans aus, wenn die Band „Universal Tellerwäscher“ oder „Was hat dich bloß so ruiniert“ anstimmt. Der Applaus in der Villa Hügel verstummt so lange nicht, dass zwei Zugaben vonnöten sind.
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Im Wohnzimmer der Familie Krupp sind Getränke tabu
Dabei unterhält Spilker sein Publikum in der Villa Hügel charmant, aber unaufdringlich, reißt im einen Moment mit, um im nächsten wieder nachdenklich zu stimmen. Dass er das Konzert nach 45 Minuten unterbrechen muss, ist dem kostbaren Holzfußboden und Durst der Gäste geschuldet. Das einzige Manko dieses Konzertabends: Getränke sind im Wohnzimmer der Krupps tabu.
Nur im Foyer wird ausgeschenkt. Weißwein ist in rauen Mengen da, beim Bier muss zwischendrin nachgeordert werden, es ist eben ein Rockkonzert. Es habe einige Bedenkenträger im Vorfeld der Veranstaltung gegeben, gesteht Volker Troche, Vorstandsmitglied der Krupp-Stiftung: „Wir haben hier ein Erbe zu bewahren. Natürlich gab es da Befürchtungen.“ Das Konzert entspringt seinem Kopf – und Herzen.
Das 150-jährige Bestehen der Villa Hügel mit Veranstaltungen wie dem Open-Air-Kino und einem Abend mit Helge Schneider habe etwas bewirkt. Die Villa wolle näher an die gesamte Stadtgesellschaft heranrücken. Für seine Konzertidee holte sich Troche Zinnober e.V. mit ins Boot: einen Essener Verein, der sich die Förderung nischiger Musikszenen auf die Fahnen geschrieben hat und schließlich „Die Sterne“ gewinnen konnte. Troche bringt es auf den Punkt: „Wir wollen uns weiter öffnen und die Villa Hügel von einer neuen Seite zeigen.“
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Mille Petrozza und Friedrich von Bohlen unter den Konzertgästen
„Endlich“, sagt Mille Petrozza, Frontmann der Essener Metalband „Kreator“ zu dieser Entscheidung. Auch wenn seine Band sicher nicht die richtige Musik für das Wohnzimmer der Villa Hügel liefere, sei es wichtig und gut, dass die Villa Hügel nicht nur Klassikhörer anlocke. „Wobei es die Klassik natürlich unbedingt auch braucht“, ergänzt Petrozza.
Unter das Publikum hat sich ein weiterer prominenter Gast gemischt: Friedrich von Bohlen, der nach dem Sieg von Rot-Weiss Essen direkt aus dem Stadion zum Konzert in der Villa Hügel fuhr. „Wenn es nach mir geht“, sagt der Nachfahre der Krupp-Dynastie, „dann können solche Konzerte gerne häufiger hier stattfinden.“