Essen. Der Nobelpreis ist keine Weltmeisterschaft. Aber Han Kang hat ihn vor allem bekommen, damit man ihn nicht Salman Rushdie geben musste.
Han Kang ist ohne Frage eine herausragende Schriftstellerin, war aber jenseits von Fachkreisen trotz des gewonnenen Man-Booker-Preises für ihren Roman „Die Vegetarierin“ bis Donnerstagmittag weithin unbekannt. Den Literaturnobelpreis mag sie allemal verdient haben – aber die Gründe, warum sie ihn in diesem Jahr zugesprochen bekommen hat, sind weitgehend außerliterarisch.
Die Jury der Stockholmer Akademie ist weiterhin sichtlich bemüht, den Frauenanteil unter denen, die den Preis bekommen haben, zu steigern. Da ist noch viel zu tun, die Liste, die mit Selma Lagerlöf (1909), der Sardin Grazia Deledda (1928) und der Dänin Sigrid Undset (1928) beginnt, endete bislang bei Olga Tokarczuk (2018), Louise Glück (2020) und Annie Ernaux (2022). Han Kang ist die 18. in dieser Reihe.
Nach Annie Ernaux und Jon Fosse durfte es niemand mehr aus Europa werden
Vielleicht hat sich die Jury ja nun vorgenommen, alle zwei Jahre eine Frau auszuzeichnen – ganz dahinterkommen, welche Kriterien nun den Ausschlag geben, wird man wohl nie, da gibt es in Preisjurys auch zu oft eine ganz eigene Dynamik, in der nicht zuletzt eine Rolle spielt, welche Kandidatinnen und Kandidaten konsensfähig sind, jenseits von literarischer Qualität, für die es ohnehin keine Maßeinheiten gibt. Es geht ja, nicht zuletzt, um Geschmacksurteile.
Jedenfalls durfte der Preis, nach Annie Ernaux und Jon Fosse, in diesem Jahr wohl nicht nach Europa gehen, Afrika ist zuletzt 2021 in Gestalt von Abdulrazak Gurnah bedacht worden. Und nicht zuletzt dürfte es darum gegangen sein, eine Preisverleihung an Salman Rushdie zu vermeiden, die in der gegenwärtigen weltpolitischen Lage wohl Öl ins Feuer gegossen hätte.
Salman Rushdie wird wohl zu den alten weißen Männern gezählt – und lebt auch noch in den USA...
Zudem dürfte Rushdie mit seinen 77 Jahren zu den alten und, angesichts seiner britisch-indischen Herkunft auch weißen Männern gezählt werden. Allmählich widerfährt ihm dasselbe Schicksal wie Philip Roth, der sterben musste, ohne den verdienten Literaturnobelpreis bekommen zu haben. Rushdie macht zudem noch den Fehler, in New York zu leben – und gegen die USA ist die Jury offenbar allergisch, weshalb es dann zähneknirschend zu originellen Entscheidungen kommen kann wie der für den Literaturbetriebs-Außenseiter Bob Dylan, der das erforderliche Maß an Widerspenstigkeit mitgebracht hat (die dann allerdings auch auf denkbar manierenfreie Weise die Preisverleihungs-Zeremonie torpedierte).
Fraglich ist zuletzt auch, ob man Han Kang einen Gefallen damit getan hat, ihr den Preis in vergleichsweise jungen Jahren zuzusprechen. Erfahrungsgemäß tun sich alle, die den Preis bekommen haben, anschließend recht schwer damit, noch große Werke zu schaffen. Die Latte liegt dann denkbar hoch und niemand will drunter wegtauchen; aber sie nicht reißen zu dürfen bedeutet großen Druck. Günter Grass, der das mit Selbstherrlichkeit kompensierte, ist da nur ein Beispiel von vielen.