Essen. Von innen ist China viel maroder als es von außen wirkt. Die Problemzonen: Renten und Gesundheit, Vergreisung und Wirtschafts-Knick.

2049 wird die Volksrepublik 100 Jahre alt, bis dahin will sie die USA als führende Weltmacht abgelöst haben. Aber so viel man über den außenpolitischen Ehrgeiz der 1,4-Milliarden-Nation hört und weiß, so spärlich sind Informationen darüber, wie es im Land aussieht, wie es um den Alltag dort bestellt ist. Über das eine wie das andere schreibt Lea Sahay, die China-Korrespondentin der „Wirtschaftswoche“ von 2016 bis 2018 war und inzwischen für die Süddeutsche Zeitung von dort berichtet, in ihrem neuen Buch.

Da geht es um ein durch und durch marodes, korruptes Gesundheitssystem, um Menschen, die sich keinen Deut um Verunglückte im Straßenverkehr kümmern und im Leben nicht auf die Idee kämen, anderen am Bus den Vortritt zu lassen. Um eine junge Generation, die exzellent ausgebildet ist, sich aber aus Perspektivlosigkeit auf Fabrikjobs bewerben muss. Um eine demografische Katastrophe in Folge der Ein-Kind-Politik, die China bald stärker vergreisen lassen wird als das hochbetagte Japan. Um Investitionsruinen wie sechsspurigen Autobahnen in menschenleeren Regionen, Folgen des Bauwahns in Zeiten, als das chinesische Wirtschaftswachstum regelmäßig zweistellig war. Und um eine Kluft zwischen bitterarmer Landbevölkerung und Städtern, denen gerade der „chinesische Traum“ vom eigenen Auto, moderner Wohnung und genügend Geld für eine Familiengründung zwischen den Fingern zerrinnt.

Das „Sozialkredit-System“ blieb bislang eine dunkle Fantasie, aber Chinesen hofften auf mehr Moral durch Technik

Diese Perspektive, so Sahay, sei bisher die Machtbasis der Kommunistischen Partei gewesen. Inzwischen ist es der Überwachungsstaat mit Gesichtserkennung allerorten. Dabei hofften viele Chinesen, die Technik würde gesellschaftliche Probleme lösen, „die Menschen zu mehr Moral erziehen, sie ehrlicher und das Leben sicherer machen“. Denn „die rasante Industrialisierung hatte den Zerfall traditioneller Gemeinschaften beschleunigt“. Selbst das berüchtigte „Sozialkredit-System“, mit dem alle Einzelnen bewertet werden sollten und das bislang noch eine pessimistische Zukunfts-Fantasie geblieben ist, ließ die Menschen auf weniger Umwelt-, Lebensmittel- und Finanz-Skandale hoffen. Stattdessen bekommen Besucher von Parktoiletten in Peking nach einer Gesichtskontrolle genau 60 Zentimeter Klopapier zugeteilt.

Aber die Probleme bleiben. Früher kämpfte die chinesische KP gegen „drei Berge“: Imperialismus, Feudalismus und bürokratischen Kapitalismus. Heute gibt es neue „drei Berge“: zu niedrige Sozialleistungen und Renten, wuchernde Bildungsausgaben und ein marodes Gesundheitssystem. Neben der allgegenwärtigen Überwachung im digitalen wie im realen Leben stabilisiert aber auch der chinesische Nationalismus das System: Ausländer werden in China skeptischer denn je gesehen (und gelten dank staatlicher Propaganda als eigentliche Auslöser der Corona-Pandemie, die in China nach Aufhebung der Lockdowns Abertausende das Leben kostete), die Zeiten der ehrgeizig Englisch lernenden Taxifahrer sind vorbei.

Xi Jinpings Ziel, 2049 führende Weltmacht zu sein, ist auch Innenpolitik

Die Olympischen Sommerspiele von 2008 waren „die größte nationale Coming-Out-Party“ der Geschichte, schreibt Sahay; vier Jahre später kam Xi Jinping an die Macht und schraubte viele Reformen zurück, straffte und zentralisierte die Staatsmacht. Am Ende ist auch die Maxime für 2049 ein Teil seiner stabilisierenden Herrschaftsstrategien.

Die Autorin gastiert am Dienstag, 8. Oktober (20 Uhr), bei der „Lesart“ des Deutschlandfunkkultur im Essener Grillo-Theater gemeinsam mit dem Autor Markus Frenzel („China Leaks“) zum Thema „Chinas Machthunger“, bei dem es auch um „Pekings geheimes Netzwerk in Deutschland gehen wird. Sie diskutieren darüber mit Christian Rabhansl (Deutschlandfunkkultur) und Jens Dirksen (WAZ). Eintritt: 8 €.

Lea Sahay: Das Ende des chinesischen Traums. Leben in Xi Jinpings neuem China. Droemer, 282 S., 24 €.