Essen. Ex-„Stern“-Reporter Uli Hauser über einen lehrreichen Sommer mit seinem Bruder Johannes. Er schildert ein erfülltes Leben mit Behinderung.
Das Drama, das bei der Geburt von Johannes Hauser passiert sein musste, offenbarte sich erst nach Wochen, Monaten. Johannes schrie unablässig, und schlafen konnte er auch schlecht. Irgendwann stellte sich heraus, dass er zu wenig Luft bekommen hatte bei der Geburt, vermutlich stranguliert von der Nabelschnur. Dadurch sind einige Hirnzellen abgestorben. Die Ärzte sagten ihm höchstens zehn Lebensjahre voraus
„Geht doch“, „Eltern brauchen Grenzen“, „Jedes Kind ist hochbegabt“
Heute ist Johannes über 50, und seine Eltern sollten zum ersten Mal im Leben zur Kur fahren, mit weit über 80. Deshalb kam der große Bruder aus Hamburg angereist. Uli Hauser, der jahrzehntelang Reporter für den „Stern“ war und schöne Bücher geschrieben hat wie „Geht doch!“ (über einen Fußmarsch von Hamburg nach Rom), „Eltern brauchen Grenzen“ oder „Jedes Kind ist hochbegabt“ mit der Neurologie-Koryphäe Gerald Hüther.
Nun also Sommerferien mit Johannes im heimischen Orsoy am linken Niederrhein. Johannes wäre gern Kettenkarussell gefahren. Gehts aber nicht, zu gefährlich für ihn. Auf der Suche nach Alternativen stieß Uli Hauser auf ein „Parallel-Tandem“ – ein Rad für zwei, die nebeneinander sitzen, unterstützt von einem gedrosselten Elektromotor. Jeder kann trampeln, so viel oder wenig er mag.
Und das taten die beiden auch, machten die ganze Gegend unsicher, fuhren jeden Tag. Für Johannes, der keine Treppen erklimmen kann, ein berauschendes Erlebnis. Und für seinen großen Bruder? Auch. Aber es machte ihn auch nachdenklich. Er spürte, dass er gerade vieles von seinem Bruder lernte. Lebensfreude. Eine andere Sicht der Dinge. Dankbarkeit für die einfachen Sachen.
Und er kam ins Grübeln darüber, ob Menschen wie Johannes nicht auch zu bewundern sind. Für die vielen Dinge, die sie aushalten. Angewiesen sein auf andere zum Beispiel. Schmerzen. Verzicht. Und ja: anders Denken. Zu den Sätzen, die Johannes am liebsten sagt (außer „Alles klar!“), gehört schließlich: „Hauptsache gesund!“
Die Geschichte der Behinderten und ihrer Wahrnehmung seit der Nazi-Zeit
Uli Hauser schildert auch das fürsorgliche Wohnheim, in dem Johannes lebt, seit die Eltern zu alt für seine Pflege sind. Und misst nebenher die weite Strecke aus, die wir, noch im Schatten der Nazi-Ideologie, seit den 70er-Jahren im Umgang mit Behinderten zurückgelegt haben. Die heiterschönen Wochen mit Johannes Hauser nehmen zwischendurch schon fast märchenhafte Züge an. Aber dann holt eine satte Portion Realismus, verfeinert mit federleichter Ironie, die Geschichte wieder auf den Boden der Tatsachen.
Uli Hauser: Gemeinsam, anders, glücklich. Vom erfüllten Leben meines Bruders mit Behinderung. ZS Verlag, 174 S., 22,99 €.
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