Essen. Ein mitreißender Abend im Grillo-Theater: Hakan Savaş Mican inszeniert den Roman „Der Reisende“. Warum man sich das ansehen sollte.
Am Ende dieses mitreißenden, tief bewegenden Ensembleabends steht ein Appell: Steht auf, erhebt eure Stimme, geht auf die Straße. Nun, Gründe dafür gibt es viele. Beinahe drei Stunden haben wir das Schicksal des deutsch-jüdischen Kaufmanns Otto Silbermann verfolgt. Und einen Einblick in die Seele des Regisseurs Hakan Savaş Mican gewonnen, der sich in Europa nicht mehr zuhause fühlt. Während einer Tour über den Kontinent hat der deutsch-türkische Theater- und Filmemacher Tagebuch über sein wachsendes Gefühl des Fremdseins geführt, und er hat Ulrich Alexander Boschwitz‘ Roman „Der Reisende“ gelesen. Ergebnis sind schockierende Parallelen, ist aber auch eine furiose Inszenierung, mit der das Grillo-Theater in Essen am Wochenende in die Spielzeit startete.
„Der Reisende“ in Essen: Otto Silbermann hat alles verloren
Otto Silbermann hat alles verloren. Seine Wohnung haben die Nazis zertrümmert, seine Frau hat ihn verlassen. Keine Bleibe, keine Rechte, keine Perspektive. Seine Firma ist weg, nicht mal mehr seinen Namen darf er sagen, weil er ihn als Juden ausweist. Über die Grenze lässt man ihn nicht. Und so irrt der gerade noch angesehene Geschäftsmann durch das Nazi-Deutschland des Jahres 1938: Berlin, Hamburg, Leipzig, die Deutsche Reichsbahn ist ihm dabei zur unerwünschten Heimat geworden. Einziges Gepäckstück ist ein Geldkoffer, der ihm von seiner Firma geblieben ist.
Am Anfang fällt der Blick auf eine dunkle Spielfläche mit Instrumenten: Gitarren, ein Cello, Klavier, Schlagzeug, Bass, Akkordeon. Mathias Znidarec tritt im lässigen Outfit aus dem Off. Gleich wird er die Rolle des Silbermann und des Erzählers übernehmen. Doch zuvor berichtet er von der Reise des Regisseurs, in deren Verlauf dieser mit einem wachsenden Unwohlsein rang. Und er stellt klar: Natürlich lässt sich seine Betroffenheit nicht mit dem Schicksal der Juden in der NS-Zeit vergleichen. Aber Parallelen bestehen irgendwie doch. Ein zunehmendes Anderssein. Eine diffuse Angst bei neuen Unworten wie „Remigration“. Ein wachsender Rassismus. Der Abend verknüpft Texte des Regisseurs mit dem Roman, aber er entwertet ihn in keinem Moment. Die Klammer ist nicht mehr und nicht weniger als ein Gefühl.
Die Inszenierung, die das vermittelt, ist furios. Die Musiker sind gleichzeitig Schauspieler, sie untermalen Silbermanns atem- und schlaflose Reise durch ein zunehmend fremdes Land mit Liedern und Musik, immer wieder legen sie ihre Instrumente zur Seite, um in wechselnde Rollen zu schlüpfen. Lene Dax ist die Sängerin des Abends, aber sie ist auch Ottos Frau Elfriede, Frau Susig und Erzählerin. Alexey Ekimov ist Stein, Becker, ein Arbeiter, Silbermanns Sohn Eduard, ein Gendarm und noch einiges mehr..
„Der Reisende“ in Essen: Intime Szenen am Bühnenrand
Gegossen sind Silbermanns Begegnungen in kleine intime Szenen am Bühnenrand: Die Abfuhr alter Bekannter. Telefonate mit dem Sohn in Paris, zu dem Silbermann so gern gelangen möchte. Der Kuss einer Frau, ein Hauch von Mitleid und Menschlichkeit inmitten der Kälte und Ignoranz. Ein Schachspiel mit einem Nazi-Polizisten in nächtlicher Dunkelheit, nur das Partei-Abzeichen leuchtet grell. Und so entsteht aus wenig eine ganze Welt. Und genau so muss Theater sein.
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Der Abend ist nicht larmoyant, er konstruiert keine künstliche Betroffenheit, er wirkt bei aller Traurigkeit nicht angestrengt, sondern wie mit leichter Hand auf die Bühne gezaubert, einziges Beiwerk sind Video-Szenen einer Reise: Die Autobahn, Straßen, Menschenströme, das Meer. Und als das Ensemble nach den Standing Ovations und dem Jubel im Saal auf die Vorderbühne kommt, um angesichts einer immer stärker werdenden AfD an die Zivilcourage eines jeden einzelnen im Publikum zu appellieren, nimmt man viel davon mit hinaus in die Nacht. Der Kopf ist voll, das Herz ist schwer. Gutes Theater kann beides erreichen.
Zwei Stunden, 50 Minuten, eine Pause. Informationen zu Terminen und Karten finden Sie hier